GRUPPEN BILDEN, GRUPPEN HASSEN, EINSCHLAFEN ZUR AFTERHOUR
: Wenn die dünnen Fäden sichtbar werden

VON LAURA EWERT

Wer auch immer sich diese Kolumne ausgedacht haben mag, hat einen Denkfehler begangen. Rumstehen und am nächsten Tag schreiben – kein Problem. Aber ausgehen und am nächsten Tag schreiben, wie soll das denn funktionieren? Nach sechzehn Stunden Schlaf ist zwar der Körper so fit, dass er alle zehn Minuten vom Schreibtisch aufspringt, um etwas zu erledigen. Aber der Kopf ist doch nur dazu fähig, sich Auswege zu erdenken: Ortswechsel. Nahrungszubereitung. Er lässt die letzten Nächte Revue passieren, und so weiter. Dabei hat sich das Unglücklichste ereignet, was sich an einem Feierwochenende so ereignen kann. Einschlafen auf der Afterhour, während die anderen noch Spaß haben. Vermutet man nachher zumindest. Und trotz frühzeitiger Ruhe fällt es dem Kopf schwer, den Abstand zwischen Erinnerung und Bildschirm zu überbrücken. Wie ein gestörter Datentransfer quasi.

Auf einer Party einzuschlafen erweckt gemeine Kindheitserinnerungen. Ausgeschlossen sein aus der für Initiationsriten so wichtigen Gruppe. Die große Angst, etwas zu verpassen. Dann wacht man auf, hört von Weitem Gelächter und Geklimper von Flaschen, schaut sich verschreckt um, hat kurz vergessen, wo man ist, und sieht, obwohl die Kontaktlinsen schlierig an den Pupillen kleben, die Spuren des Spaßes. Volle Aschenbecher, leere Plastikverpackungen, halb gegessenes Essen. Es ist egal, wie lange man geschlafen hat, man kommt nicht mehr rein. Die letzten Stunden sind nicht nachzuholen. Die Freundesgruppe hat dem Schlafenden schon Spitznamen gegeben, auf den gemachten Polaroids ist man nur liegend und mit geschlossenen Augen zu sehen. Die Witze, über die man sonst gelacht hätte, sind nicht mehr nachzuvollziehen. Plötzlich ist der Durst nach Wasser größer als der nach Bier. Die Welt hat einen ein kleines Stück zurück.

Wenn jemand einschläft, ist das aber nicht nur für den Schläfer ein Verlust. Auch die Wachgebliebenen haben schließlich jemanden verloren. Vor ihnen atmet schwer ein stilles, mahnendes Beispiel. Vermutlich liegt darin auch der Grund für die so gemeine wie blödsinnige Tradition des Anmalens von Schlafenden. Wer einschläft, wird angemalt, wenn die Wachen entweder Langeweile haben oder mit der neuen Gruppenkonstellation nicht klarkommen. Aber auch da gibt es ja eine Abhängigkeit.

Der Gruppenzusammenhang ist beim Ausgehen sowieso der sensibelste Punkt. Damit steht und fällt alles. Man beginnt den Abend gemeinsam, schaukelt sich hinein in das „Uns gehört die Welt“-Gefühl, passt zueinander und aufeinander auf. Hat eine Sicherheit im gefährlichen Partykosmos. Schließt sich gemeinsam im Hinterraum ein und von anderen aus. Aber irgendwann wird der Erste müde. Das kann man ihm nicht vorwerfen, er hatte ja alles versucht, und trotzdem wird man kurz nachdenklich. Etwas fehlt, und wieder stellt sich ein Gefühl aus der Kindheit ein, das des Alleingelassenwerdens. Der Drang, die Familie zusammenzuhalten. Richtig doof wird es, wenn jemand vorsätzlich die Gruppe verlässt. Meist sind Möglichkeiten der Zweisamkeit von neu gefundenen Partnern der Grund. Auch das kann man niemandem vorwerfen. Solange man sich verabschiedet, ist das alles noch irgendwie zu verkraften. Wird sich aber nicht verabschiedet, dann weiß man, die Gruppe ist im Arsch. Und in Wirklichkeit ist das beim Ausgehen das Allerschlimmste. Wenn die Gruppe keine Gruppe mehr ist und die feinen Fäden, die sie zusammenhielten, als solche zu erkennen sind. Dann gibt es nur noch wenig, was den Müden vom Einschlafen abhalten kann.