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: Die kreative Leerstelle zwischen 6 und Sturm

Europa schaut dann nach Afrika, wenn es jemanden sucht, der die Drecksarbeit verrichten soll

Wer erinnert sich noch an Jay-Jay Okocha? Einer zumindest: Oliver Kahn. Es war ein lauer Augustabend 1993, als der Nigerianer von Eintracht Frankfurt im Strafraum der Bayern auftauchte und zu tanzen begann. Mit dem Ball. Kahn schickte Okocha gleich zweimal zu Boden, bevor er lässig einschob.

Okocha gehörte zu einer langen Reihe von Spielern aus Afrika, die gerade wegen solcher Momente von europäischen Klubs geholt worden waren. Das überraschende, kreative Element, das so oft in einem Spiel den Unterschied ausmacht. Der berühmteste von ihnen war ein Ghanaer, der seinem Nachnamen alle Ehre machte. Abédi Pelé war jahrelang die Schaltzentrale von Olympique Marseille, es war zum großen Teil seinen Ideen zu verdanken, dass der Klub 1993 die Champions League gewann.

Noch immer gilt der streichelnde, spielerische Umgang mit dem Ball als „typisch afrikanisch“. Bei dieser WM drängt sich aber die Frage auf: Wieso eigentlich? Denn Kreatives war von den schwarzafrikanischen Mannschaften bisher kaum zu sehen. Bei der Elfenbeinküste, Nigeria, Kamerun, Ghana und Südafrika fehlt jeweils ein Spieler, der das defensive Mittelfeld mit dem Sturm verbindet, es fehlen eben die Nachfolger von Okocha und Abédi Pelé.

Warum das so ist? Weil die Schlüsselspieler aller afrikanischen Nationalmannschaften ihr Geld zwar bei europäischen Klubs verdienen und nicht selten Weltklasse darstellen, dort aber vor allem die Sechser-Position besetzen oder im Sturm spielen. Dazwischen allerdings klafft bei ihren Nationalteams eine kreative Lücke.

Der Prototyp dieses Trends heißt Michael Essien vom FC Chelsea: Kompakt, athletisch und seit Jahren der weltbeste Abräumer vor der Abwehr mit Talenten zur Spieleröffnung. Neben ihm als zweiter Sechser spielt oft sein ghanaischer Landsmann John-Obi Mikel. Demselben Muster folgen längst Real Madrid mit Mahamadou Diarra (Mali), der FC Barcelona mit Yaya Touré (Elfenbeinküste) und Seydou Keita (Mali), Arsenal mit Alexandre Song (Kamerun). Es scheint fast so, als ob die europäischen Topvereine vor allem dann nach Afrika schauen, wenn sie jemanden benötigen, der die unglamouröse Drecksarbeit verrichtet. Oder, um es drastischer zu formulieren: Wenn sie jemanden suchen, der die Sklavenarbeit verrichtet, damit die europäischen oder südamerikanischen Stars glänzen können.

Selbst die aus Afrika stammenden Offensivspieler, die sich in Europa durchsetzen, sind selten feingliedrige Angreifer: Profis wie Didier Drogba und Samuel Eto’o verbinden überlegene Athletik mit überdurchschnittlichen technischen Fähigkeiten.

Das Problem ist, dass kein Ende dieser Entwicklung in Sicht ist. Im Fußball blühen schließlich die Vorurteile, auch wenn sie rassistisch sind. So werden Klubs aus Europa in Afrika immer wieder den Typ Essien suchen. Wenn aber eine so starke ökonomische Kraft wie der europäische Vereinsfußball vor allem die Spieler anzieht, die der Rolle entsprechen, die das europäische Spielverständnis für Afrikaner vorsieht – dann wird es schwierig für einen wie Okocha oder Pelé. Hinzu kommt, dass die Afrikaner, die in Europa spielen, ihre Nationalteams entscheidend prägen.

Doch jedes Vorurteil wird irgendwann einmal widerlegt – auf kurz oder lang auch im Fußball. So gewinnen auch Spanier mittlerweile Titel, spielen Brasilianer mit deutscher Disziplin und die Deutschen mit (ansatzweise) südamerikanischem Flair. Vielleicht erleben wir noch bei dieser WM, dass sich ein Afrikaner einfach den Ball nimmt und zu tanzen beginnt. Ein Kandidat wäre der 21-järige Ghanaer André Ayew. Abédi Pelé ist sein Vater. CONSTANTIN WISSMANN