Deutschland gewinnt 18:0


AUS HAMM HENK RAIJER

Das 4:0 der Deutschen kriegt Mark nicht so richtig mit. Auch das 8:0 kurz vor dem Halbzeitpfiff läuft an dem Spieler mit der Nummer 18 vorbei. Nichts zieht Mark in die Tiefe des Raums, der junge Mann in Gelbblau vom Team aus Bradford klammert sich geradezu an den weißen Strich des Mittelkreises und wendet sich, Orientierung suchend, immer wieder an seinen Coach am Spielfeldrand. Den Ball berührt Mark bis zu seiner Auswechslung kein einziges Mal.

In der Mannschaft aus dem englischen Bradford sind zum Testspiel gegen die deutsche WM-Auswahl an diesem heißen Juni-Tag im Jahnstadion zu Hamm vier Jugendliche mit Down-Syndrom aufgelaufen. Die Truppe aus dem Land des Fußballweltmeisters der Menschen mit Behinderung, die sich für diese Begegnung mit Spielern der Lebenshilfe Hamm verstärkt hat, ist für die deutsche Mannschaft nicht mehr als ein Sparringpartner. Denn anders als im Team der Partnerstadt Hamms spielen in der deutschen Elf ausschließlich junge Männer mit Lernbehinderung (LB), sozusagen die „Elite“ der Menschen mit geistiger Behinderung.

Keine Behindertenliga

Und die nehmen die Vorbereitung zur WM 2006 im eigenen Land so ernst wie die Profis aus dem Klinsmann-Kader ihre. Mit geballter Leidenschaft gehen die Jungs von Cheftrainer Willi Breuer in der Mittagshitze zur Sache, folgen seinen lautstark von der Tartanbahn aufs Spielfeld geschleuderten Direktiven und jagen dem beklagenswerten Torsteher des gegnerischen Teams nahezu im Minutentakt die Bälle um die Ohren.

Spielwitz, Tempo und Kombinationssicherheit des deutschen Teams verraten individuelles Talent und taktisches Verständnis. „Unsere jungen Nationalspieler sind mehrheitlich LB-Schüler, die älteren arbeiten in Werkstätten“, erklärt Beate Rohr-Sobizack, Mitarbeiterin der Lebenshilfe NRW und Organisationsleiterin der Fußball-WM der Menschen mit Behinderung. „Anders als Menschen mit Down-Syndrom haben sie nur kognitive Defizite, ansonsten sehen sie aus wie wir“, sagt Rohr-Sobizack. „Menschen mit Down-Syndrom wären schon körperlich nicht in der Lage, auf diesem Niveau Sport zu treiben.“ Spielberechtigt seien für die kommende Weltmeisterschaft (siehe Kasten) dennoch sowohl geistig wie auch Lernbehinderte. Der Intelligenzquotient der WM-Teilnehmer dürfe dabei laut Fifa-Statut nicht höher als 75 sein.

Bis auf zwei alte Hasen, die schon bei der Fußball-WM in Holland (1994), England (1998) und Japan (2002) dabei waren, sind alle im deutschen 20er-Kader unter 20 Jahre alt. „Entdeckt“ wurden sie nicht von professionellen Scouts, wie beim DFB üblich, sondern „eher zufällig“ bei Werkstatt-Turnieren, „Tagen der Talente“ oder Fußballlehrgängen. 50 Prozent der Jugendlichen im schwarz-weißen DFB-Dress, die sich drei bis vier Mal im Jahr zu einem Trainingslager einfinden und Mehrländerwettkämpfe bestreiten, haben einen Migrationshintergrund und stammen aus sozial schwachen, zum Teil desolaten familiären Verhältnissen. Sie spielen sowohl in regulären Vereinen als auch in Behindertenmannschaften in NRW, einem von insgesamt vier Bundesländern, in denen von nennenswerten Strukturen im Fußball für Menschen mit mentalen Defiziten überhaupt die Rede sein kann. „Es gibt ja keine Behindertenliga in Deutschland, und auch das in England und Holland gelebte integrative Modell ist bei uns noch unterentwickelt“, sagt Beate Rohr-Sobizack, die an diesem Tag im Jahnstadion Unternehmer und Sponsoren, aber auch Bundes- und Lokalpolitiker für die Unterstützung ihrer die WM begleitenden „gesellschaftlichen Kampagne“ gewinnen will.

Ein vierter Platz ist drin

Ziel dieser Aktion ist es, durch größere Öffentlichkeit und bürgerschaftliches Engagement eine Nachhaltigkeit im solidarischen, toleranten und offenen Umgang behinderter und nichtbehinderter Menschen zu erreichen. „Wir freuen uns ja schon, wenn einer wie DFB-Chef Theo Zwanziger überhaupt ein Wort über die WM der Menschen mit Behinderung verliert“, sagt Projektleiterin Rohr-Sobizack. „Ein Event wie die WM könnte dazu dienen, mehr Möglichkeiten der Begegnung zu schaffen, dafür zu sorgen, dass Behinderte stärker als bisher am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und dass zum Beispiel Unternehmen von sich aus an Werkstätten herantreten, um Chancen einer Beschäftigung auszuloten“, so Rohr-Sobizack. Oberste Priorität hat beim Organisationsbüro in Hürth zurzeit jedoch die Werbung für das Großereignis Ende August, dafür habe man die Bürgermeister aller 41 WM-Austragungsorte angeschrieben: „Wir wollen die Stadien voll kriegen.“

Halbzeit im Jahnstadion, das mit 500 Fans auf der Schatten spendenden Haupttribüne bescheiden gefüllt ist. Cheftrainer Willi Breuer schart seine Jungs um sich. „Hier spielt die Musik“, ermahnt der Fußballlehrer aus Bergheim, der im Hauptberuf als Sportpädagoge an einer Werkstatt für Behinderte in Brühl tätig ist, seine Jungstars Ahmet Demir und Serkan Kahraman. „Wir gehen jetzt von 4-3-3 auf 4-2-4 und geben noch mal richtig Gas“, sagt Breuer. Dabei schiebt der 52-Jährige mit dem kecken Kinnbärtchen, der fünf Jahre als Nachwuchstrainer die Steppkes des 1. FC Köln, darunter auch Lukas Podolski, trainiert hat, bunte Figürchen über einen tragbaren Taktiktisch mit grünem Spielfeld. Die Nationalspieler hängen an seinen Lippen, nicken, wenn Breuer nach seinen klaren Anweisungen jedem einzelnen in die Augen schaut, und stürmen begeistert aufs Spielfeld, als „Sportskamerad Westerwinter“ zur zweiten Halbzeit bläst.

„Meine vierte WM“

„Wir haben uns ganz bewusst für einen Gegner minderen Kalibers entschieden“, sagt Breuer, der in knallrotem DFB-Dress an der Seitenlinie auf und ab trabt und, so oft das Spiel ruht, dem einen oder anderen Spieler eine Flasche Wasser reicht. „Die Jungs brauchen in dieser Phase der Vorbereitung ein Erfolgserlebnis“, bemüht der deutsche Chefcoach die Philosophie seines Kollegen Klinsmann, der in den Wochen vor der „richtigen“ WM ebenfalls ernsthaften Gegnern aus dem Wege gegangen ist. „Ahmet, das sind keine klaren Aktionen“, ruft er seiner Nummer 10 zu. „Spielt mit einander“ und „mehr durch die Mitte“, fordert der Trainer, der froh ist, dass drei seiner Spieler, die „aus erzieherischen Gründen“ längere Zeit nicht im Kader waren, wieder dabei sind.

Am 29. August bestreitet Breuers Mannschaft in der Duisburger MSV-Arena das Eröffnungsspiel gegen Japan. Um den Einzug ins Finale am 16. September in der Leverkusener BayArena spielen neben der deutschen Auswahl Teams wie Frankreich, Japan, Holland, Brasilien oder England. Breuer rechnet mit einem vierten Platz, wie bei der letzten WM in Japan, bei der England die Trophäe mit nach Hause nahm.

Auf Akteure, die in der zweiten englischen Liga spielen, kann der Coach zwar nicht zurückgreifen; seine Nationalspieler sind alle Amateure und spielen höchstens in der Kreisliga. Aber auch seine Jungs seien körperlich, technisch und taktisch fit, meint Willi Breuer, der die meisten seiner Spieler in Werkstätten und Vereinen aus NRW rekrutiert hat. Talent und Begeisterung brächten alle mit, sagt der frühere Oberligaspieler, der einen freundschaftlichen, aber autoritären Umgang pflegt. Alles andere sei nur eine Frage von Disziplin und Vermittlung.

Für Letztere hat Willi Breuer, dem Lukas Podolski jüngst in einem Interview mit dem Magazin Doppelpass „Leidenschaft und Lockerheit“ bescheinigte, seine ganz eigene Sprache entwickelt. „Du musst den Jungs alles vormachen“, erklärt er. Eminent wichtig für seine Arbeit auch im Alltag in der Werkstatt sei eine bildhafte Sprache und eine ausdrucksstarke Mimik. Eine klare Linie und einfachste Anweisungen seien das A und O. „Drei Kommandos auf einmal überfordern sie“, sagt Breuer, der am Morgen nach eigenem Bekunden „einmal tief durchgeatmet“ hat, als alle pünktlich in Hamm ankamen und keiner seine Fußballklamotten vergessen hatte.

Auf Andreas Timm ist in dieser Hinsicht Verlass. Ganz und gar routiniert wirkt der Stürmer aus Essen, der nach Jahren in Heimmannschaften heute beim FBV Frillendorf in der Kreisliga A kickt. „Ich mache jetzt meine vierte WM“, erzählt Timm, der seit der WM 1994 eine feste Bank in Breuers Kader ist. 76 Länderspiele hat der gelernte Schlosser mit den Schultern eines Hans-Peter Briegel auf dem Buckel. „Dabei hab‘ ich 56 Tore geschossen“, sagt der 31-Jährige, der das 18:0 seines Teams vom Spielfeldrand betrachtet und sich verschwitzt aus Schuhen und Socken schält.

Mark sitzt bis zur 90. Minute in voller Montur auf der Ersatzbank. Im Schatten. Erst nach dem Schlusspfiff zieht es ihn in die Sonne, zum Mittelkreis, wo er sich auskennt und jetzt die Medaillen vergeben werden.