Ziellos in Göttingen

Die Gastgeberstadt des mexikanischen Teams freut sich über tausende begeisterte WM-Touristen – auch wenn mancher Mittelamerikaner keinen rechten Plan für die Deutschlandreise zu haben scheint

AUS GÖTTINGENANDREAS RÜTTENAUER

„Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist.“ Heinrich Heine beginnt seine 1826 erschienene „Harzreise“ mit einer Abrechnung. Er lässt kein gutes Haar an der Stadt, in der er einst Jura studiert hat. Es hat sich einiges verändert seither. Der König von Hannover arbeitet mittlerweile für die russische Gasindustrie. Und auch wenn Göttingen immer noch ein Universitätsstandort ist, so ist das Ortsbild, anders als zu Heines Zeit, nicht von Korpsstudenten geprägt, sondern von Konsumenten. Eine ganz normale Stadt. Das mag José Antonio Gonzales Hurtado nicht glauben. Für den mexikanischen Fernsehredakteur von TV Azteca ist Göttingen etwas ganz Besonderes. „Wir haben hier Freunde gefunden“, sagte er.

Seit zwei Wochen ist Hurtado mit seinem Team in Göttingen. Die mexikanische Nationalmannschaft hat ihr Quartier während der WM am Rande der Stadt bezogen. Seither kommen täglich mehrere tausend Mexikaner nach Göttingen, mal um ihrer Mannschaft beim Training zuzusehen, mal um einfach nur nachzusehen, wo und wie die Fußballer in Deutschland untergebracht sind. Das Tourismusbüro hat reagiert. Es ist, solange Mexikos Mannschaft in der Stadt logiert, täglich bis 21 Uhr geöffnet. Es wurde eigens eine Spanisch sprechende Mitarbeiterin engagiert. „Jetzt kann ich endlich auch einmal eine Frage beantworten“, freut sich die deutsche Mitarbeiterin, wenn jemand das Büro betritt, der weder südländisch aussieht noch ein grünes Trikot der mexikanischen Nationalmannschaft übergestreift hat. 2.500 bis 3.000 Mexikaner, so schätzt sie, seien in der Stadt unterwegs. Als Mexiko in Hannover gegen Angola gespielt hat, sei die Innenstadt leer gewesen, erzählt sie beinahe traurig über die Rückkehr des Alltags nach Göttingen. „Aber jetzt“, strahlt sie, „sind alle wieder da.“

50.000 Mexikaner werden heute in Gelsenkirchen erwartet, wenn ihr Team gegen Portugal spielt (16 Uhr, ZDF). Am Freitag in Hannover haben sie das Stadtbild beherrscht: die glücklichen Fans in den grünen Trikots, die mit der Gewissheit, ein Ticket zu besitzen, schon Stunden vor dem Anpfiff in Feierlaune waren – und die bis kurz vor dem Anpfiff hoffnungsfrohen Schwarzmarktkunden mit ihren „Need tickets!“-Schildchen.

José Hurtado sieht das kritisch. „Es sind zu viele Mexikaner hier.“ Viele seien einfach angereist, ohne zu wissen, ob sie Karten bekommen oder wo sie unterkommen können. „Jetzt laufen sie auf der Straße herum, trinken Bier und benehmen sich schlecht“, klagt er. In der Tat reisen etliche Fans aus Mittelamerika reichlich ziellos durchs Land. In den Sonderzug, der nach dem Spiel am Freitagabend von Hannover nach Berlin gefahren ist, sind etliche Mexikaner eingestiegen, einfach so. In der Früh um halb vier standen sie am Hauptbahnhof und wussten erst einmal nicht weiter.

Auch in Göttingen kommen täglich viele Mexikaner an, deren Reise durch Deutschland alles andere als durchgeplant ist. Hurtado schüttelt den Kopf und wundert sich, dass sich niemand im Ort daran stört. „Ich kenne Deutschland. Vor elf Jahren“, erzählt Hurtado, „war ich das erste Mal hier. Und immer waren die Menschen so ernst und strebsam.“ Während der Weltmeisterschaft sei das alles ganz anders. Alle seien freundlich. Hurtado glaubt aber nicht, dass sich die Deutschen über die Jahre verändert haben. „Wer die Geschichte kennt, die politische Lage, der weiß, dass die WM-Stimmung schnell wieder vorbei sein wird.“ Er lacht. „Deutschland bräuchte eigentlich dauernd eine WM.“

Am Samstag sind Hurtado und sein TV-Team mit ihrer Puppe „Tachi-Jito“ in der Göttinger Innenstadt unterwegs. Das gelbe Stoffmännchen war schon vor vier Jahren in Japan und Südkorea unterwegs und hat die mexikanischen Fernsehzuschauer über landeskundliche Absonderlichkeiten informiert. Das „coole Kerlchen“, so könnte man „Tachi-Jito“ übersetzen, spürt an diesem Tag den Radfahrern in der Stadt nach. „Das gibt es bei uns nicht, dass sich die Leute mit dem Rad fortbewegen“, sagt Hurtado. „Wäre ja auch zu gefährlich.“ Jetzt ist er der Puppenspieler, der sich über die deutschen Sitten lustig macht. „Radfahren, daran kann sich vielleicht noch meine Oma erinnern, wie das geht“, lässt er die Puppe zwei jungen Radlern in grünen Trikots nachrufen.

Auch über das deutsche Essen hat sich das Kerlchen bereits lustig gemacht. Die Würste seien ja ganz gut, sagt Hurtado. Aber irgendetwas stimme mit dem Trinkwasser nicht oder mit dem Hackfleisch. Er jedenfalls bekomme regelmäßig Durchfall. Irgendjemand scheint sich für Montezumas Rache, über die so viele Mexikoreisende aus Europa klagen, zu rächen. Bald reist das Team von TV Azteca nach München, um über die Deutschen und das Bier zu berichten. „Wir sind jedes Mal ein bisschen traurig, wenn wir von Göttingen wegmüssen“, sagt Hurtado. Anders als Heinrich Heine. Der war froh, als er endlich wegkonnte aus der spießigen Studenten- und Professorenstadt.