Andy adelt Divine

Stuart Samuels Dokumentarfilm „Midnight Movies“ ist eine Hommage an das Minderheiten-Kino der 70er-Jahre

New York gilt als die Stadt, die niemals schläft. Mitternacht ist also keineswegs ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, um ins Kino zu gehen. Ungewöhnlich waren allerdings die Filme, die in den frühen Siebzigerjahren auf dieser Programmschiene zu sehen waren: Sie handelten von Drogen und Gewalt, von Monstern und Außenseitern, und – in einem essentiellen Moment – von einer dicken Drag Queen namens Divine, die Hundescheiße aß.

Wer sich „El Topo“ von Alejandro Jodorowsky oder „Night of the Living Dead“ von George A. Romero ansah, tat dies selten ohne einen Joint. Im Regelfall sang man auch mit, wenn sich die Gelegenheit bot: „Mitternachtsfilme“ waren ein Phänomen. Kreative Außenseiter wie David Lynch oder John Waters suchten ein wagemutiges Publikum und fanden es in den „ironischen Schlaflosen“ der großen Städte. Die Geschichte dieses Kults rekonstruiert Stuart Samuels in seinem Dokumentarfilm „Midnight Movies. From the Margins to the Mainstream“. Darin treten auch die Kritiker J. Hoberman und Jonathan Rosenbaum auf, die ein Standardwerk über die Mitternachtsfilme geschrieben haben, auf dessen Kanon sich Samuels bezieht.

„Midnight Movies“ besteht aus Statements und Filmausschnitten, die rasant montiert sind und oft auch ironisch aufeinander bezogen werden. Waters und Lynch sprechen über ihre Klassiker „Pink Flamingos“ und „Eraserhead“. Das Publikum stieß auf diese Film meist durch Mundpropaganda. Sie liefen manchmal über geraume Zeit, bevor sie entdeckt wurden – dann gehörte es für die Boheme aber zum guten Ton, dort gesehen zu werden.

Yoko Ono, John Lennon, Andy Warhol adelten die „Midnight Movies“ durch ihren Besuch. In den frühen Siebzigerjahren verwandelte sich die Oppositionsbewegung von 1968 in vielfache Transgressionsprojekte. Die „Rocky Horror Picture Show“ fasste alle Bewegungen dieser Zeit als Einweihung in die Gegenkultur zusammen. Der Reggae-Klassiker „The Harder They Come“ öffnete dem weißen Publikum die Augen für eine bis dahin völlig unbekannte Musik und ihre Vertreter. In einen Mitternachtsfilm gingen die Leute nicht einfach, um ihn zu sehen. Sie wollten ihn zelebrieren, und sich gleich mit dazu.

Als Videos zu einem Massenartikel wurden, war es mit dem „Geheimwissen“ der Mitternachtskinos vorbei. Die „ironischen Schlaflosen“ gingen von nun an in die Videothek, und blieben dabei wieder allein.

BERT REBHANDL

„Midnight Movies“, im Babylon (Kreuzberg) und im Eiszeit