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„Leistungsstarke leiden nicht“

VOLKSENTSCHEID Schulsenatorin Goetsch äußert sich zu der Bemerkung von Pisa-Forscher Baumert, die Primarschule-Debatte sei ein „unnötiger Streit“. Es gehe um Gerechtigkeit

Christa Goetsch, 57

■  ist Schulsenatorin und Zweite Bürgermeisterin. Bis 2002 lehrte sie Naturwissenschaften an einer Altonaer Schule. Foto: dpa

INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Frau Goetsch, Hamburg belegt beim nationalen Bildungsvergleich mit Ausnahme des Fachs Englisch wieder hintere Plätze. Was machen wir falsch?

Christa Goetsch: Wir haben wie alle Großstädte eine ganz andere Integrationsleistung zu meistern wegen der großen sozialen Unterschiede und auch, weil viele Kinder aus Einwandererfamilien im Deutschen erst aufholen müssen. Das ist einer der zentralen Gründe für die Schulreform.

Macht ein Vergleich von Flächenstaaten und Metropolen wie Hamburg und Berlin überhaupt Sinn?

Sicher nur eingeschränkt. Aber man kann doch erkennen, wo schon Erfolge zu sehen sind – wie bei den Englischkenntnissen, und wo wir noch ordentlich nachlegen müssen.

Noch gut drei Wochen bis zum Volksentscheid. Wie schätzen Sie die Stimmung ein?

Das ist sicher von Stadtteil zu Stadtteil unterschiedlich. Wir haben gerade bei Großveranstaltungen wie der Altonale sehr viele positive Rückmeldungen. Und nun hat sich auch noch das akademische Personal der Universität für die Reform ausgesprochen. Das freut einen natürlich.

Vorige Woche sagte Pisa-Forscher Jürgen Baumert im Spiegel , einen Beweis für die Wirksamkeit der sechsjährigen Grundschule gebe es nicht.

Herr Baumert sagte gleichzeitig, dass es zur Primarschule auch gar keine empirische Evidenz geben kann, weil man dafür beide Systeme parallel laufen lassen und die Kinder per Zufall verteilen müsste.

Aber er nennt den Konflikt um die Primarschule einen „völlig unnötigen Streit“. Das Zwei-Säulen-Modell sei Reform genug.

Das überraschend mich, weil Herr Baumert in einer Re-Analyse der Berliner Element-Studie selbst gezeigt hat, dass längeres gemeinsames Lernen den Kindern insgesamt zugute kommt und die Leistungsstarken nicht schwächt.

Sie sprechen von der Studie des Bildungsforschers Reiner Lehmann über die sechsjährige Berliner Grundschule.

Ja. Darin wurden die Schüler der sechsjährigen Grundschule mit jenen sieben Prozent verglichen, die schon ab Klasse 5 aufs Gymnasium wechseln. Lehmann schloss daraus, das Gymnasium fördere besser und warnte, in der Grundschule würden leistungsstarke Schüler gebremst. Dieser Vergleich war nicht seriös. Baumert hat dann statistisch gleiche Schüler-Pärchen verglichen und herausgefunden, dass die leistungsstarken Schüler an den Grundschulen am Ende der sechsten Klasse genauso weit sind wie die Leistungsstarken am Gymnasium. In Mathematik waren sie sogar etwas besser. Man sieht, die Leistungsstarken leiden nicht.

Die Berliner Studie zeigt auch, dass die Schwachen sehr gut gefördert wurden. Es gab kaum Sechstklässler, die schlecht lasen. Reicht das nicht schon?

Aus meiner Sicht ja. Es ist die Gerechtigkeitsfrage, die dafür spricht, dass man länger gemeinsam lernt. Aber wir wollen allen Kindern gerecht werden, auch den Leistungsstarken. Das ist ein wichtiger Teil unseres Konzepts.

Ihnen widerspricht auch Professor Kurt Heller aus München. Auf einer Veranstaltung der Reformgegner in der Bucerius Law School sagte er, die Behauptung, dass in heterogenen Gruppen die Förderung aller möglich sei, sei wissenschaftlich widerlegt.

Das ist Quatsch. Es funktioniert an den Reformschulen in dieser Stadt. Es funktioniert aber auch an sehr vielen Orten in der Welt. Nehmen Sie Toronto in Kanada, eine große Einwanderungsstadt, die mit Hamburg vergleichbar ist. Dort wird langes gemeinsames Lernen mit moderner Pädagogik kombiniert – mit sehr guten Ergebnissen.

Wie kontrollieren Sie, dass sich die Primarschule in der Praxis bewährt?

Wir haben dafür sehr viele Instrumente. Es gibt eine europaweit ausgeschriebene wissenschaftliche Begleitung, den Sonderausschuss der Bürgerschaft, eine verstärkte Schulinspektion und regelmäßige Erhebungen. Hat eine Schule schlechte Ergebnisse, wird sie von der Behörde unterstützt und betreut.

Ein Argument der Reformgegner ist, in gemischten Gruppen würden die lernschwächeren Kinder leiden.

Es ist genau umgekehrt. Wenn wir lernschwache Kinder unter sich halten, entstehen nicht förderliche Lern-Milieus.

Heller sagt, er könne sich auch vier oder sechs Schulformen vorstellen. Man müsse heute mehr differenzieren als früher, weil die Gesellschaft eine ganz andere sei als vor 40 Jahren. Eine isolierte Position?

Als im Frühjahr die Universität Hamburg eine große Fachtagung zu diesem Thema organisierte, war es schwer, einen Wissenschaftler zu finden, der gegen das längere gemeinsame Lernen war.

Ein Kritikpunkt sind die Kosten. Für kleine Klassen benötigen Sie mehr Räume, das geht richtig ins Geld. Bleibt es dabei, trotz Haushaltskrise.

Ja. Der Haushaltsausschuss hat das bereits einstimmig beschlossen und wir haben eine Koalition, die den Schwerpunkt Bildung ernst nimmt.

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