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AUFM PLATZSeniles Italien

Es war von operettenhafter Dramatik, als Marcello Lippi nach dem Desaster der italienischen Nationalmannschaft wie der Befehlshaber einer in entscheidender Schlacht schwer zertrümmerten Armee alle, wirklich alle Schuld auf sich nahm. So hielt er denn eine flammende Selbstanklage: Dass sein Team weder taktisch noch physisch oder psychisch auf die Begegnung gegen die Slowakei vorbereitet gewesen und „mit Angst im Herzen“ auf den Platz gegangen sei. Hätte nur noch gefehlt, dass sich Lippi nach dem letzten Wort in ein Schwert gestürzt, um seiner unwürdig gewordenen Existenz ein Ende zu bereiten.

Besser verständlich als durch solche Schuldeingeständnisse wird die Niederlage aber durch einen Blick auf die Spielstatistik. Allein die Feststellung, dass die Slowakei häufiger am Ball war, frappiert. Die Ziffer von 51 Prozent Ballbesitz spricht zwar nicht von einem allzu gewaltigen Übergewicht, ist aber für ein Spiel zwischen Favoriten und Außenseiter sehr ungewöhnlich. Ähnlich ist es bei der von den Spielern zurückgelegten Strecke. Bei Abpfiff waren die Slowaken insgesamt nur 155 Meter mehr als die Italiener gelaufen, aber wenn man dieses Verhältnis während des Spiels betrachtete, waren sie bis weit in die zweite Halbzeit fast 20 Prozent mehr gerannt als der Gegner. Überhaupt retteten die Italiener ihre Statistik erst in der letzten Viertelstunde, als sie so etwas wie eine Schlussoffensive starteten.

Doch da hatte sich schon längst der Eindruck festgesetzt, dass bei dieser Mannschaft schlichtweg das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Altstars wie Cannavaro, 37 Jahre alt, Zambrotta, 33, Gattuso und Pirlo, 32, oder Iaquinta, 31, bekamen nie mehr als lupenreines Trabertempo ins Spiel. Und es fehlte ihnen nach den vielen großen Partien ihrer Karriere über weite Strecken auch die Unbedingtheit, sich der Slowakei noch einmal richtig anzunehmen.

Dass sie überhaupt immer noch auf dem Platz standen, hatte nicht nur mit der Anhänglichkeit von Lippi gegenüber seinen Weltmeistern zu tun, sondern weist auch auf die Strukturprobleme des italienischen Fußballs hin. Zum ersten Mal seit Menschengedenken gibt es dort Nachwuchssorgen, denn weder die Junioren-Nationalmannschaften überzeugen, noch gibt es überragende Talente in der Serie A. Bis dieses Problem behoben ist, kann es dauern, wie wir in Deutschland wissen.

Italien ist in einer ähnlichen Situation, wie sie hierzulande nach der EM 2000 herrschte, als erst nach dieser die Talentförderung endlich verbessert wurde. Die Resultate sind bei dieser WM zu sehen – also ein gutes Jahrzehnt später.

CHRISTOPH BIERMANN

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