Die kontrolliert Offensive

Soll sie den Trainer an die Brust drücken – wie Kohl? Die Bälle ins Tor dreschen – wie Schröder? Die Kanzlerin hat sich zur WM für den Mittelweg entschieden: Sie zeigt so viel Nähe zum Fußball wie nötig und verbiegt sich so wenig wie möglich

VON JENS KÖNIG

Der Fußball ist eine Macht. Er herrscht über Gefühle. Er bringt sogar die deutsche Bundeskanzlerin aus der Fassung.

Was ist nicht alles über sie geschrieben worden: die Physikerin der Macht, kühl bis ins Herz, beherrschter als alle männlichen Alphatiere der Politikerwelt zusammen, stets auf adrette Distanz bedacht. Es sei schwer vorstellbar, schrieb Jürgen Leinemann im Spiegel, dass Angela Merkel bei einem Spiel mit hochrotem Kopf vom Sitz hochschnelle, brülle und die Arme in die Luft werfe. Sie bewege sich auf der Stadiontribüne mit der gleichen unaufgeregten Selbstverständlichkeit wie im Bundestag oder auf einer Technologiemesse. Von wegen. Die Kanzlerin sitzt bei den Spielen der deutschen Mannschaft auf der Tribüne, schnellt vom Sitz, brüllt, wirft die Arme in die Luft.

Wovon verstehen diese Propheten jetzt weniger? Vom Fußball oder von Merkel?

Vielleicht konnten sie sich einfach nicht vorstellen, was der Fußball im WM-Rausch mit der Kanzlerin anstellt, wie sehr er sie in ihren Bann zieht. Vielleicht haben die Propheten aber auch einfach nur nicht genau genug gelesen. Angela Merkel hat in wenigen, ausgesuchten Interviews vor der Weltmeisterschaft dafür gesorgt, dass ein paar Geschichten in der Öffentlichkeit auftauchten, die ihren Status als blutige Amateurin in Frage stellen sollten: dass sie sich schon seit ihrem siebten Lebensjahr für Fußball interessiert. Wie sie im Mai 1974, da war sie Studentin, das Spiel DDR gegen England im voll besetzten Leipziger Zentralstadion gesehen und bei dem 1:1 furchtbar gefroren hat. Wie aufregend es für sie als damalige Umweltministerin war, als sie 1996 bei der EM den Halbfinal-Elfmeterkrimi zwischen Deutschland und England in einer Bonner Kneipe gesehen hat.

Da konnte sie in einem Interview, in dem es um ihren Fußballsachverstand ging, sogar zugeben, dass sie den legendären Johan Cruyff nicht auf der Straße erkennen würde. Bei dieser Antwort, die vermutlich ins Bild der drei fragenden Männer passte, ging ein wenig unter, dass sie Cruyff gleichzeitig als „Idol meiner Jugend“ bezeichnet hatte. Merkel rehabilitierte sich in den Augen der Journalisten erst wieder, als sie auf deren dämliche Frage hin, ob sie die Abseitsregel erklären könne, ein Stück Papier nahm und mit zwei verschiedenfarbigen Filzstiften das letzte Refugium des deutschen Fußballmannes aufzeichnete.

Genau darin liegt die politische Gefahr für Merkel: Sie ist eine Frau, sie hat mit Sport nichts am Hut, sie war, wie sie selbst einmal zugab, schon als Kind „ein kleiner Bewegungsidiot“, und jetzt regiert sie als Bundeskanzlerin ausgerechnet in dem Jahr die Republik, in dem die Weltmacht Fußball die Herrschaft über ganz Deutschland übernimmt. Was also tun? Den Bundestrainer an die Brust drücken, wie es Helmut Kohl mit Berti Vogts vorgemacht hat? Beim Staatsbesuch einfach die Ärmel hochkrempeln und den erstbesten Fußball aufs erstbeste Tor dreschen, wie von Gerhard Schröder in Mexiko formvollendet vorgeführt? Das mochte sie sich gar nicht erst vorstellen.

Aber was dann tun? Anbiedern? Die Expertin vortäuschen? Oder einen auf naiv machen, was Männer, besonders wenn sie sich fußballerisch überlegen fühlen, ausgesprochen gern mögen?

Merkel verfuhr nach der Merkel-Methode: Sie wählte den Mittelweg. Sicher ist sicher. Sie zeigte sich in der Öffentlichkeit als interessierter Fußballlaie, der versucht, in der Bundesliga den Überblick zu behalten. Sie räumte freimütig ein, keine Expertin zu sein. Sie spielte geschickt mit den Geschlechterrollen, indem sie verriet, dass sie „tendenziell fußballbegeisterter“ als ihr Mann sei. Wobei die ganze triefende Ironie dieses Satzes nur diejenigen verstehen konnten, die wissen, dass der Chemieprofessor Joachim Sauer Fußball für eine äußerst überflüssige Angelegenheit vor sich hin pubertierender Jungmänner hält. Sie überlebte sogar ein Interview mit Johannes B. Kerner und Reinhold Beckmann, in dem sie sich von den beiden Großintellektuellen des deutschen Fernsehens fast die Hälfte des Gesprächs lang bereitwillig zum Fußballblödchen stempeln ließ. Frage Merkel: „Wie viele der WM-Spieler kennen Sie denn namentlich?“ Antwort Kerner: „Ich kann Ihnen einen Trick verraten: Da steht hinten immer der Name auf dem Rücken. Das macht die Sache deutlich einfacher.“

Merkel verlor ihr Hauptanliegen jedoch nie aus den Augen: Sie wollte ihr ehrliches Interesse an der Fußball-WM in Deutschland unter Beweis stellen. Was blieb ihr auch anderes übrig. Dafür ging sie im Dezember 2005 sogar in die Höhle des Löwen, zum Bundestag des Deutschen Fußball-Bundes, und nahm es mit großer Gelassenheit hin, dass dort ausgerechnet ihr Vorgänger Gerhard Schröder zum Ehrenmitglied des DFB ernannt wurde. „Ich habe mich auf manchem Feld mit Ihnen in eine Wettbewerbssituation begeben“, sagte sie damals Richtung Schröder. „In der Frage des Schießens auf Tore mit Fußbällen werde ich dies nicht tun, dies verspreche ich hier.“

Auch wenn der Satz alles andere als selbstbewusst daherkam – mit ihm hatte die Kanzlerin die ganze „Acker“-Dichtung von Gerhard Schröder geschickt unterlaufen, die immer und immer wieder erzählten Geschichten aus seiner Jugend, wie er als Mittelstürmer von TuS Talle den Platz umgepflügt und die Gegner niedergekämpft hatte, ganz so wie später in der SPD, im Kanzleramt, im Weißen Haus in Washington, immer nach der alten Fußballerweisheit: ich oder er, gut oder böse, rot oder schwarz. Aber Merkel hatte damit auch zu erkennen gegeben, wie sehr sie diese explosive Verbindung von Fußball und Politik, diese von Männerschweiß und Männermythen zusammengehaltene Angelegenheit in Wahrheit fürchtet.

Sie glaubt zwar keine Sekunde lang an die Weisheit, wonach die Politik genauso funktioniert wie der Fußball; für sie ist Politik wie Schachspielen: kühl analysieren, Züge vorausberechnen, nicht aus der Reserve locken lassen. Merkel weiß aber, dass noch jeder Mann an diesen Fußball-Politik-Quark glaubt, ob er nun Kohl, Schröder oder Stoiber heißt, und 40 Millionen Männer in ihrer Eigenschaft als Wähler tun es vermutlich auch. Deswegen hat sie sich frühzeitig nach ihrem Wahlsieg im September 2005 mit ihren Beratern zusammengesetzt, um eine für sie überaus brisante Frage zu erörtern: Wie soll sie als Kanzlerin und Frau mit der Fußball-WM umgehen? Ergebnis: so viel Nähe zum Fußball herstellen wie nötig, als Person sich dabei so wenig wie möglich verbiegen lassen.

Das mit der Nähe fiel ihr anfangs erkennbar schwer. Als sie im März zum Fußballgipfel ins Kanzleramt lud, konnte man noch an jeder ihrer Bewegungen erkennen, wie fremd ihr diese Klinsmann-Bierhoff-Welt in Wirklichkeit ist. Doch mit jedem Auftritt wuchs ihr Gespür für dieses eigentümliche Metier. Sie sprach auf dem Fifa-Kongress, sie saß beim Pokalfinale der Frauen im Stadion, sie saß beim Pokalfinale der Männer im Stadion, sie besuchte kurz vor der WM das deutsche Team sogar im Trainingslager. Merkel fragte viel und ließ sich bereitwillig alles erklären, die Lebensgeschichten von Miroslav Klose und Lukas Podolski ebenso wie die akribische Vorbereitung des Trainerstabes auf das erste Spiel. Sie hatte keine Probleme damit zuzugeben, dass ihr gefällt, wie hartnäckig Jürgen Klinsmann den verschnarchten Traditionsladen DFB aufmischt. Schon im März im Kanzleramt hatte sie den Nationaltrainer in der heiß umstrittenen Torwartfrage überraschend verteidigt und ihn dafür gelobt, dass er „alte Zöpfe abgeschnitten“ habe. „Wenn man von einem Kurs überzeugt ist, muss man daran festhalten“, hatte sie hinzugefügt, und das klang fast schon so, als könne die Politik doch etwas vom Fußball lernen.

Jetzt sitzt die Kanzlerin bei allen Spielen der deutschen Mannschaft im Stadion, sie hat sich die entsprechenden Termine bis zum Finale freigehalten. Merkel wirkt bei diesen Auftritten keineswegs deplatziert. Sie verhält sich beim Fußball, soweit das einer Regierungschefin im grellen Licht der Öffentlichkeit überhaupt noch möglich ist, halbwegs authentisch – mindestens genauso authentisch, wie Schröder es auf seine Art und Weise auch war.

An diesem unaufgeregten Verhalten prallen alle aufgeblasenen Deutungen und Theorien über die Instrumentalisierung des Fußballs durch die Politik – die übrigens fast alle von Männern aufgestellt werden – ganz selbstverständlich ab. Merkels Nichtinszenierung sei die wahre Inszenierung, behauptete neulich die Süddeutsche Zeitung, die Kanzlerin nutze die Fußball-WM still und leise als Tarnkappe für die entscheidende Phase der Regentschaft von Schwarz-Rot. Die Arbeitslosen übersehen die Verschärfungen von Hartz IV, die Bürger gucken wegen Deutschland – Schweden nicht genau auf den Gesundheitsfonds, für den sie sich im Normalfall brennend interessiert hätten? Das sind alberne Thesen aus der hermetischen Journalistenwelt. Merkel sieht das ganz realistisch. „Ein erfolgreiches Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der WM kann sicher über den Fußball hinaus für positive Stimmung in unserem Land sorgen“, sagt sie. „Aber so eine Stimmung verebbt auch wieder. Die Bürger lassen sich nicht einfach einlullen und vergessen ihre Sorgen.“

Fußball ist eine Macht. Es mag sein, dass Angela Merkel das in diesen Tagen zum ersten Mal körperlich durchlitten hat. Diese Erfahrung wird sie jedoch nicht von ihrer Überzeugung abbringen: Fußball kann manchmal eine aufregende Angelegenheit sein, aber es ist und bleibt zuallererst – ein Spiel.