Amerikas Versprechen im Blick

FILM Beim „Unknown Pleasures“-Festival im Babylon Mitte mit aktuellen Filmen des unabhängigen US-Kinos verkneift man sich meist die Wendung zum Sentimentalen

■ Bei „Unknown Pleasures“, dem American Independent Film Fest, sind bis 15. Januar im Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30, auch einige Welt-, Deutschland- oder zumindest Berlin-Premieren zu sehen. Fast alles läuft in der Originalfassung, nur vereinzelt mit Untertiteln. Eine Berlin-Premiere auch „The Immigrant“, 2013 im Filmfestival Cannes im Wettbewerb, mit dem „Unknown Pleasures“ gestern am Mittwoch eröffnet wurde. Am 15. Januar ist der Film nochmals zu sehen. www.unknownpleasures.de

VON ANDREAS BUSCHE

Ellis Island ist noch immer ein Symbol für das Einwanderungsland USA, auch wenn dessen Demografie längst von Zuwanderern aus dem Süden Amerikas bestimmt wird. Wer aber Ende des 19. Jahrhunderts etwa aus Europa in die Vereinigten Staaten kam, musste noch die Sammelstelle auf der kleinen Insel im Hafen von New York City passieren. Von hier aus hatten die Neuankömmlinge auch eine gute Sicht auf die Freiheitsstatue, die vom Versprechen auf Freiheit und den „Pursuit of Happiness“, verbrieft in der Unabhängigkeitserklärung, kündete.

Insofern ist es treffend, dass die sechste Ausgabe des „Unknown Pleasures“-Festivals im Babylon Mitte mit einem Blick von Ellis Island auf die Freiheitsstatue beginnt. Das Festival des unabhängigen US-Kinos widmet sich in diesem Jahr einem breitem Spektrum von Amerika-Bildern, in dem James Grays Eröffnungsfilm „The Immigrant“ eine explizit historische Position einnimmt.

„The Immigrant“ handelt von einem Einzelschicksal aus der letzten großen Einwanderungswelle in die Vereinigten Staaten Anfang der zwanziger Jahre, sucht in seinem epischen, sepiagetönten Geschichtsbogen aber auch nach einem Bild von der gegenwärtigen USA. Wie ein Land seine Gäste behandelt, verrät viel über das Land selbst.

Die polnische Haushaltshilfe Ewa (gespielt von Marion Cotillard) landet auf Ellis Island und direkt in den Armen eines charismatischen Pimps (Gray-Stammkraft Joaquin Phoenix), der die Hoffnung der Frau auf ein anständiges Leben schnell zunichte macht. Um ihre kranke Schwester aus der Quarantänestation freikaufen zu können, muss sich Ewa prostituieren, später hat sie noch den Tod eines freundlichen Helfers zu verantworten.

Komplementär zu „The Immigrant“, der den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten in die dunklen Gassen und Animierlokale von New York verlagert, fungiert Paul Schraders ‚Skandalfilm‘ „The Canyons“ als Abgesang auf das amerikanische Kino. Lindsay Lohan und Pornostar James Deen bringen ihre ganz persönlichen Lebensläufe in Schraders wahnsinnig manierierten und auf souveräne Weise auch lustlosen Erotik-Thriller am Rande der Filmindustrie ein, der mit einer schönen Montage von heruntergekommenen Filmpalästen im Großraum Los Angeles eröffnet.

Ignoriert man einmal das aufgeregt kolportierte Drumherum der Dreharbeiten, ist New Hollywood-Veteran Schrader mit „The Canyons“ ein erstaunlich stimmiges (und bösartiges) Porträt über das Leben in den Hollywood Hills gelungen. Allein das Missverhältnis von Schraders visueller Präzision und der Banalität von Brett Easton Ellis’ Drehbuch irritiert ein wenig. Lindsay Lohan überzeugt hingegen mit einer bravourös dünnhäutigen Entäußerung, in der der ehemalige Disney-Star dem Voyeurismus des Publikums den ungeschminkten, von Selbstausbeutung versehrten Körper wie ein Schutzschild entgegenhält.

„The Immigrant“ und „The Canyons“ sind die beiden einzigen exklusiven Festival-Beiträge, die produktionstechnisch noch in das amerikanische Mainstreamkino hineinlappen (obwohl Schraders Film teilweise mit Crowdfunding-Geldern finanziert wurde). Sie werden im Rahmen von „Unknown Pleasures“ flankiert von einer Reihe kleinerer Produktionen, die ebenfalls neuralgische Punkte der US-amerikanischen Öffentlichkeit berühren. Werner Herzog etwa setzt seine Kritik an der Todesstrafe mit „Death Row 2“ fort, Frederick Wiseman kümmert sich in „At Berkeley“ um das amerikanische Bildungssystem.

Lindsay Lohan überzeugt mit einer bravourös dünnhäutigen Entäußerung

Es sind aber gar nicht die Filme über Institutionen, die aus dem Programm von „Unknown Pleasures“ herausstechen. Nathan Silvers Außenseiterdrama „Soft in the Head“ über ein mental instabiles Mädchen und die Arbeiterklasse-Dokumentation „Northern Light“ von Nick Bentgen beschreiben jenseits großer Sozialdramen, wie Individuen in einer Gesellschaft um ihr Überleben ringen, die nicht einmal mehr in der Lage ist, die verzweifelte Wut der Menschen als das zu erkennen, was sie eigentlich ist: pure Existenzangst. Einzig Alexander Payne löst diese Diskrepanz in seinem in Schwarzweiß gedrehten Roadmovie „Nebraska“ noch mit einer Wendung hin zum Sentimentalen auf.

Unterschlagene Geschichte

Der Filmemacher Travis Wilkerson, dem das Festival ein Spezialprogramm widmet, verfolgt dagegen einen didaktischen Ansatz. Seine Auseinandersetzung mit unterschlagenen Kapiteln einer linken amerikanischen Geschichte hat in den vergangenen zehn Jahren ein formal geschlossenes Werk zwischen Dokumentation und Essayfilm hervorgebracht.

„Unknown Pleasures“ zeigt unter anderem Wilkersons neue Arbeit „The Communist Situation in California“ über die „Red Squad“-Kommandos der Polizei von Los Angeles in den Dreißiger Jahren. Hiermit schließt sich auch der Kreis zu Wilkersons Mentor Thom Anderson, dessen viel gelobter Essayfilm „Los Angeles plays itself“ in Berlin erstmals in restaurierter Fassung aufgeführt wird.