Die Jungs können laufen

Für Tempofußball muss sich ein Team kollektiv bewegen. Aber Laufen lernt man nicht in zwei Wochen

VON DIETER BAUMANN

„Wir haben uns zu wenig bewegt“, sagte Kaka nach einem der weniger glanzvollen WM-Auftritte der Brasilianer. Aus dieser Aussage könnte sehr schnell der Schluss gezogen werden, dass es für ein schnelles und attraktives Spiel laufstarke Spieler braucht. Das schnelle Spiel bezieht sich aber nicht auf einen schnellen Stürmer wie beispielsweise David Odonkor. Das schnelle Spiel bezieht sich auf den Ball.

Es gibt vielleicht Riquelme, aber es gibt definitiv keinen Günter Netzer mehr, der durch das Mittelfeld trabt und ab und an mit einem langen Pass glänzt. Solche Aktionen machen das Spiel langsam und beinhalten die Gefahr eines Ballverlustes, da der lange Ball oft beim gegnerischen Spieler oder im Aus landet. Im heutigen Fußball überwiegt das schnelle, direkte, Passspiel von Mann zu Mann. Bei passsicheren Spielern sieht das fast mühelos aus, und es entsteht ein enormes Tempo.

Durch dieses schnelle Kombinieren wird das Mittelfeld überbrückt, um dann, kurz vor der Strafraumgrenze, die Stürmer in Position zu bringen oder noch besser: einen Spieler an der Linie für eine Flanke in Position zu bringen, siehe Odonkor oder Lahm. Zu dieser Spielweise werden zunächst pass- und spielsichere Spieler gebraucht. Das reicht aber nicht; moderner Fußball bedeutete zunächst kollektive Laufarbeit. Bleibt ein Spieler in der Formation aus welchen Gründen auch immer stehen, entsteht eine Lücke. Aufgrund dieser Lücke hat das gegnerische Mittelfeld den Platz für den Pass in die Tiefe, schon wird es ernst.

Noch schlimmer allerdings wirken sich Lücken im System auf das Angriffsverhalten einer Mannschaft aus. Das Angriffsspiel braucht Anspielstationen, noch dazu wenn der Ball direkt weitergeleitet werden soll, was für ein schnelles Spiel nötig ist.

Zwei Bedingungen müssen dazu erfüllt sein. Die erste Voraussetzung ist das geistige Verständnis der Spieler. Sie müssen wissen, wer wann wohin zu laufen hat. Der deutsche Co-Trainer Joachim Löw hat dies in der Vorbereitung mit dem schönen Satz „Laufwege zum Glück“ beschrieben. Laufwege zum Glück sind für mich lange Dauerläufe durch einen kühlen Wald. Aber so hat das Löw sicher nicht gemeint.

Laufwege meint die kollektive Bewegung seiner Mannschaft. Das hat in erster Linie weniger mit der körperlichen Kondition zu tun als vielmehr mit geistigem Verständnis. Ein einziger Kunstschuss kann für einen Sieg reichen, aber einen gesicherten Erfolg erzielen die Mannschaften nur mit einer kollektiven Mannschaftsleistung, mit den Laufwegen zum Glück.

Hört sich in der Theorie sehr einfach an, ist aber auf dem Platz sehr schwierig. Abwehr, Mittelfeld und Angriff müssen nicht nur für sich „funktionieren“, sondern diese drei Bausteine müssen zudem ineinander greifen. Fehlt einem Spieler das Verständnis für die Laufwege, entstehen Lücken, die die anderen nicht mehr stopfen können. Die Spieler müssen ohne Zuruf wissen, wer wann wohin laufen wird. Dies bedeutet: üben, üben, üben. Ganz offensichtlich haben das die deutschen Jungs im WM-Trainingslager am Genfer See auch getan.

Doch alles Wissen – wer wann wohin zu laufen hat – nützt nichts, wenn den Jungs dann nach 60 Minuten die Luft ausgeht. Zugegeben, die Abwehrkette kann auch dann noch funktionieren, wenn den Jungs die Puste ausgegangen ist, aber wenn ein Spieler aufgrund schlechter körperlicher Fitness nicht mehr in der Lage ist, auf Angriff umzuschalten, fehlt er als Anspielspielstation und das Spiel wird langsam. Für ein schnelles attraktives Spiel müssen die Jungs laufen können. Seit einem Jahr beschäftigte sich der Trainerstab des DFB mit den jeweiligen Stärken und Schwächen der einzelnen Spieler. Die verordneten Fitnesstests sollten den Spielern als Handwerkszeug dienen, ihre individuellen Fähigkeiten besser zu trainieren. Alles was dann in den letzten Wochen erarbeitet wurde, dient dem taktischen Verständnis, nicht der konditionellen Grundlage. Ausdauer und Schnelligkeit lassen sich nicht in vier Wochen trainieren, das ist eine Kunst, die Geduld erfordert.

Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass die Jungs täglich zum Dauerlauf in den Wald gegangen sind. Fußball ist eine Sportart, die viele Gehpausen ermöglicht. Um die Positionen zu halten – sprich sich als Formation nach vorne und hinten zu bewegen – braucht es vielmehr ein gutes Kraft-, Sprint und Intervall-Training.

All das können die Spieler ganz individuell trainieren und ganz offensichtlich haben sie es auch getan. Selbstverständlich haben auch die Trainer der Bundesliga an dieser guten allgemeinen Fitness der Spieler einen großen Anteil. Im deutschen Spiel scheinen jedenfalls beide Komponenten zu greifen: die taktischen Möglichkeiten werden verstanden. Und die Jungs können laufen. Nur wenn das beide funktioniert, kann man schnell und attraktiv spielen.

DIETER BAUMANN ist 5.000-m-Olympiasieger von Barcelona und Mittel- und Langstreckentrainer.