Festival-Monster mit Herz

AVANTGARDE-FESTIVAL Morgen beginnt zum achten Mal das internationale Avantgarde Festival in Schiphorst bei Hamburg, Europas größter Live-Event für experimentelle Musik

Spontanes Mitmachen ist erwünscht, zwei Räume sind dazu diesmal vorgesehen

VON ROBERT MATTHIES

Zu ihren Monstern hat die Menschheit seit eh und je ein zwiespältiges Verhältnis. Drohend mahnt ihr ungestaltes Wesen, das richtige Maß einzuhalten, und warnt vor den Gefahren und Folgen der Abweichung vom rechten Weg. Zugleich steht ihre Zugehörigkeit zur Gattung schon für die Kirchenväter nicht zur Debatte. Monster, beschließt Augustinus, sind ein Teil des Menschengeschlechts. Und spätestens seit der Sesamstraße ist klar, dass darunter auch fürchterlich liebenswerte Geschöpfe zu finden sind, mit denen man ganz gut zurechtkommen kann.

In jedem Fall liebenswert, wenn auch ein wenig herrisch, ist das Exemplar „Avantgarde Festival“, von dessen maßloser Lebendigkeit man sich ab morgen ganz in der Nähe von Hamburg, auf einem ehemaligen Gasthof im kleinen Dorf Schiphorst nordöstlich von Großhansdorf, überzeugen kann. Dort lebt es seit 14 Jahren gemeinsam mit Jean-Hervé Peron von der Krautrockband „Faust“ und seiner Partnerin Carina Varain – und zwar in deren Nacken. Gerade mal ein, zwei Monate im Jahr lässt es seine Mitbewohner in Ruhe, dann fordert es sie auf ein Neues heraus: „Wir sind nur seine armseligen Ausführer“, ist sich Peron sicher.

Entstanden ist es in Perons und Varains Köpfen, als Traum von einem Festival, das Menschen zusammenbringt, aus Freude an der Musik und Kunst: geben, ohne etwas dafür zu erwarten. Im Mittelpunkt stünde das unkommerzielle und direkte Miteinander von Künstlern und Publikum – kein Backstagegelände, kein VIP-Bereich und keine unverschämten Ticketpreise sollen da trennen. Im Sommer 1996, als gerade genug im Kulissenbau verdientes Geld vorhanden war, erblickte der Spross das Licht der Welt. Peron und Varain luden Freunde auf ihren Hof, um all jener Musik einen Raum zu geben, die war „wie die Leute, die sie machten: lebendig, aufregend, neu – Avantgarde“.

Seitdem haben beide ein halbes Jahr über schlaflose Nächte. Auch weil das Untergrund-Festival ganz ohne Subventionen auskommen musste: jedes Jahr machten Peron und Varain zu Beginn bis zu 12.000 Euro Miese, trotz Mini-Gagen für die Künstler. Flugtickets für japanische Bands sind da auch heute nicht immer drin.

Aber die Maßlosigkeit des „Internationalen Festivals für experimentelle Musik“ treibt eben auch beständig über alle Grenzen hinweg. So ist aus dem Fest für Freunde längst Europas größter und bedeutendster Live-Event für avantgardistische Musik geworden. Und ein wenig Zuschuss gibt es mittlerweile für das so hervorragend beleumundete Festival auch.

Das bleibt seiner ursprünglichen Bestimmung treu: so neu, lebendig und aufregend zu sein wie die Teile, aus denen sich sein hybrider Körper zusammensetzt. Neben internationalen Acts wie der New Yorker No-Wave-Ikone Lydia Lunch, die ihr aktuelles Projekt „Big Sexy Noise“ vorstellt, oder dem Chicagoer Avantgarde-Protest-Rocker Bobby Conn sind rund 50 KünstlerInnen und Projekte zwischen Rock, Jazz, E-Musik, Folk und Elektronik zu hören.

Spontanes Mitmachen ist dabei ausdrücklich erwünscht, zwei Räume sind dazu diesmal vorgesehen. Im „Workfloor“ bekommen „Arbeiter“ wie Maler, Schweißer, Radio-Crews, Drucker oder Instrumentenbauer die Möglichkeit, ihre Arbeit während des dreitätigen Festivals live zu präsentieren. Wie gearbeitet und ausgestellt wird, bleibt ihnen vollständig selbst überlassen. Ebenfalls vollkommen unabhängig ist die „Annexe“: ein großer Raum mit einer kleinen Bühne, in dem die KünstlerInnen selbst entscheiden, was wann mit wem aufgeführt wird, ohne sich dafür anmelden zu müssen. Nur so beginnt das Herz des Monsters tatsächlich zu schlagen: „Alle Anwesenden verschmelzen zu einer Gruppe, die nie wieder zusammenkommen wird, und für die jeder das Beste gibt, was er hat, sich selbst.“

■ Fr, 2. 7. bis So, 4. 7., auf dem Hof von Peron und Varain, Steinhorster Weg 2, 223847 Schiphorst