Linksaußen nicht in Spiellaune


AUS KÖLN HENK RAIJER

„Wo stehen wir, was wollen wir?“ fragt der Einpeitscher rhetorisch in die Menge. „Bier, Alter, wir wollen Bier!“ nimmt das Sechserpack aus der Schweiz den Ball an, den Robert Schmidt ihm zugespielt hat. „Habt denn wenigstens ihr einen gut bezahlten Job daheim?“ spricht der kräftige Mann mit schwarz-rot-goldenem Zylinder auf dem Kopf und Dompteurspeitsche in der Hand die Fußballfans jetzt per Megaphon direkt an. „Klar, kommt zu uns, in der Schweiz gibt‘s Arbeit für euch alle“, antwortet einer der sechs jungen Schweizer. Der hat sich wie seine Kumpels zur Einstimmung auf das abendliche WM-Spiel seiner Mannschaft gegen die Ukraine im Kölner Fußballstadion auf dem Platz vor dem Dom eingefunden.

Statt auf Fußballbegeisterte aus der Ukraine treffen die rot gewandeten Jungmänner mit der Bierpulle in der rechten, die rote Fahne in der linken Hand, auf eine Phalanx von Erwerbslosen. Diese haben zum Nachmittagsspiel vor dem Public-Viewing-Bereich auf dem Roncalli-Platz Stellung bezogen, um die Gäste aus aller Welt auf die sozialen Verwerfungen im WM-Land hinzuweisen. Unter dem Motto „Wir schießen zurück. Erwerbslose raus aus dem Abseits!“ haben sich etwa 300 Demonstranten zur „Großen Demonstration gegen Armut“ versammelt. Gefolgt sind sie dem Aufruf eines breiten Bündnisses aus Erwerbsloseninitiativen aus Köln, Aachen und Bonn.

Begegnung mit dem Fan

Mit von der Partie ist wie bei jeder Montagsdemo unweigerlich Klaus der Geiger. Während der Kölner Bewegungsbarde von der Ladefläche eines Kleinlasters der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK) herunter die bunt verkleideten, sich selbst feiernden Hedonisten mit Klassenkampfliedern traktiert, sucht Robert Schmidt die „Auseinandersetzung mit dem Fan“. Dem Frontmann einer brasilianischen Tanzgruppe mit gelbgrünem Haarschmuck erklärt der 51-jährige arbeitslose Journalist, wie der Heuschreckenkapitalismus hierzulande die Menschen entmutige und entwürdige. Auf Portugiesisch. Einem jungen Paar aus Spanien rechnet Schmidt vor, dass ein Auskommen mit 345 Euro im Monat „una situación muy complicada“ sei. In einwandfreiem Spanisch. „Die Fußballfans, mit denen ich hier heute diskutiere, sind nicht sehr empfänglich für Botschaften, wie ich sie überbringe“, wundert sich der studierte Romanist, der mit seiner Erwerbsloseninitiative „Tatendrang“ aus Aachen angereist ist, um für drei Stunden „Nüchternheit in die allgemeine schwarz-rot-goldene Besoffenheit“ einkehren zu lassen.

Die Schweizer auf der Domplatte haben zwar eine rote Fahne, wie sie auch viele Demonstranten schwenken. Aber angesoffen sind sie allemal. „Deutsche Wirtschaft, Olé, Olé, Olé“, skandiert Georg, ein Student der Betriebswirtschaft aus Basel, der kurz vor 17.00 Uhr gekommen war, um sich beim „Fanfest La Ola Colonia“ vor dem Römisch-Germanischen Museum das Spiel Italien gegen Australien anzuschauen. Dort aber herrscht gähnende Leere, die Nachmittagsbegegnung wird gar nicht gezeigt.

Und so vertreibt sich der 23-jährige Fan die Zeit mit den Arbeitslosen, die sich inzwischen ihrer eigenen Bühne zugewandt haben. Auf ihr kritisiert gerade Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland aus Bonn Profitgier, Zwangsarbeit und die staatlichen Vollstrecker der kapitalistischen Weltordnung. „Hoffentlich nicht Allianz versichert“, beschließt er seine aufwühlende Ansprache an ein internationales Publikum, das die Aufforderung nach „gleichen Rechten für alle hier lebenden Menschen“ wohl sofort unterschreiben würde, verstünde es die Botschaft.

„Nicht die Ärmsten“

Behrsing stellt fest, dass nur wenige Hartz-IV-Opfer an diesem Tag den Weg zur Kundgebung in Köln gefunden haben. „Sitzen wohl wie die meisten anderen vor dem Fernseher“, bedauert er. Dennoch sei die Großdemo zum Achtelfinale der WM eine gute Gelegenheit, Aufmerksamkeit für die Ziele der Erwerbsloseninitiativen zu erzeugen. Vom persönlichen Gespräch mit den zur WM angereisten Besuchern erwartet er nicht so viel. „Die Fußballfans aus aller Welt gehören eindeutig nicht zu den Ärmsten“, dämmert es Aktivist Behrsing.

Dann ist die Zeit rum, die Hartz-IV-Karawane zieht es weiter in Richtung Friesenplatz. Doch der SSK-Laster bleibt, kaum hat er gewendet, in einem Pulk Tifosi hängen, der sich unmittelbar nach Ende des Italienspiels über die Domplatte ergießt. Der ist bald blau vor Menschen, hunderte Italienfans strömen aus den Kneipen der Umgebung herbei, jubeln und strahlen. Das Elfmetergeschenk in der 94. Minute stimmt manch einen aber auch dankbar, und so drängen junge Frauen und Männer zum Haupteingang des Doms. Irgendein Heiliger wird sich da schon finden, dem man eine Kerze anzünden kann. Gute Idee, findet Georg aus der Schweiz. Eine Kerze, ein schnelles Gebet für sein Team, sozusagen prophylaktisch, könnten nicht schaden, meint er. „Und für die deutschen Arbeitslosen“, fügt er grinsend hinzu, stellt seine Pulle ab und folgt den Tifosi ins Gotteshaus.