Discount europaweit

VON D. BÖHM, V. HOLLMICHEL
UND G. LESSER

Grenzenlos billig auf Kosten der Mitarbeiter: Im hart umkämpften Einzelhandel expandiert Lidl rasant in Europa. „Die Filialen sind chronisch unterbesetzt“, moniert Agnes Schreieder von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. „Selbst Arbeitstage von 6 bis 22 Uhr sind keine Seltenheit.“ Zudem würden die Mitarbeiter per Video überwacht. „Kontrolle ist ein europäisches Phänomen bei Lidl.“

2004 hatte Ver.di die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Lidl in Deutschland aufgedeckt, jetzt folgt ein „Schwarzbuch Lidl Europa“. Inzwischen beschäftigt der Discounter mehr als 100.000 Mitarbeiter in 23 Ländern und 7.400 Filialen – die meisten Angestellten sind Frauen.

Dabei zeigt Lidl ein feines Gespür für länderspezifische Unterschiede: So akzeptiert Lidl Betriebsräte in den skandinavischen Ländern und in Belgien, weil dort die Gewerkschaften als Verhandlungspartner unumgänglich sind. Anders in Polen: „Dort werden Mitarbeiter entlassen, weil sie in Gewerkschaften sind“, berichtet Schreieder.

Und ausgerechnet in Polen würden die Lidl-Besitzer durch internationale Organisationen gefördert: „Trotz der schlechten Arbeitsbedingungen hat die Europäische Entwicklungsbank EBRD in London ein Darlehen von 160 Millionen Euro gewährt“, kritisiert Ver.di. „Das ist ein neuer Skandal“, trumpft die Gewerkschaft auf. Allerdings räumt auch Ver.di ein, dass das Geld nicht an Lidl ging. Stattdessen wurde Kaufland unterstützt, das wie Lidl zur Schwarz-Gruppe gehört.

Die ERBD wehrt sich gegen die Vorwürfe. Schon die Zahlen seien falsch: Die Förderbank habe nur einen Kredit von 80 Millionen Euro ausgereicht. Der Rest stamme von Privatbanken. Außerdem habe man sich intensiv um die Arbeitsbedingungen gekümmert. „Wir haben uns mit Gewerkschaften und der staatlichen Arbeitsinspektion zusammengesetzt“, sagt ERBD-Sprecher Tony Williams. „Die Anzahl der gemeldeten Mängel hat sich seither stark reduziert.“ Auch die Schwarzbuch-Autoren bestreiten nicht, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessert haben: „Wir haben das aus Platzgründen weggelassen“, räumt Mitautor Andreas Hamann ein. „Außerdem sind noch lange nicht alle Anforderungen erfüllt, die einen ERBD-Kredit bedenkenlos machen“.

„Lidl hat sich sehr gebessert“, bestätigt Danuta Samitowska von der staatlichen Arbeitsinspektion in Polen (PIP). 2005 wurden 36 Lidl-Filialen 50-mal unangekündigt kontrolliert. Dabei wurden 81 Verstöße gegen Hygiene-Richtlinien und 151 Verletzungen des Arbeitsrechts registriert. „Das ist sicher nicht ideal, aber ein gutes Ergebnis“, meint Samitowska.

Die Polen erregt daher nicht Lidl, sondern die größte Supermarktkette des Landes – Biedronka (Marienkäfer) aus Portugal. Eine „Gesellschaft der Biedronka-Geschädigten“ hat in einer Sammelklage für 100 ehemalige Angestellte rund 2 Millionen Zloty (ca. 480.000 Euro) an vorenthaltenen Löhnen eingefordert. Für großes Aufsehen sorgte auch der „Ausbeuter“-Prozess, der im Mai mit Haftstrafen für zwei Biedronka-Geschäftsführerinnen endete, die zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Der Widerstand gegen Lidl begann 1998 in Frankreich, wo der Discounter inzwischen mit mehr als 1.200 Filialen vertreten ist. Damals streikten die Mitarbeiter von zwei Geschäften, um gegen die Entlassung von vier Kollegen zu protestieren. Der Streik dauerte 34 Tage, wurde von der Gewerkschaft CGT unterstützt und endete mit einem Erfolg: Lidl sah sich gezwungen, die Entlassungen rückgängig zu machen; die streikenden Angestellten erhielten ihren vollen Lohn. „Die Arbeitsbedingungen sind nach wie vor sehr, sehr hart“, sagt Silver Gning, Filialleiter bei Paris. „Aber der Druck hat etwas nachgelassen.“