Frieze und Foul

Die Zuschauer brüllen, Spieler tricksen, die Entscheidungen des Schiedsrichters sind umstritten: Die erste Theatersport-WM bietet Emotional Highlights wie im Stadion

Helena Lindegren hält ein Geschenk in den Händen. Dass es klein, zerbrechlich und extravagant sein muss, ist nur am Gesichtsausdruck der schwedischen Improvisationskünstlerin abzulesen. Denn zwischen ihren Fingern ist nur Luft. Als sie das imaginäre Ding näher betrachten will, erstarrt sie plötzlich mitten in der Bewegung, Daumen und Zeigefinger direkt vor dem Gesicht. Per Gottfredsson hat laut geklatscht und die Szene so „gefriezt“. Er löst Lindegren ab und übernimmt ihre Körperhaltung. Als er weiterspielt, ist aus dem Geschenk ein kranker Zahn im Mund geworden. Gottfredsson lässt ihn sich ziehen.

Die Begegnung Schweden – Simbabwe ist das Berliner Eröffnungsspiel der ersten Theatersport-Weltmeisterschaft. In nur zehn Tagen werden 55 Spiele in elf deutschen Städten ausgetragen – schon am 7. Juli werden in Berlin die Sieger gekürt. Favorit ist wie immer die kanadische Mannschaft. 1971 gründete Keith Johnstone dort das „International Theatersports Institut“, den Vatikan der Theatersportler. Wrestling-Veranstaltungen inspirierten Johnstone damals dazu, die Wettkampfidee auf das Theater zu übertragen. Im ging es um zwei Dinge: spontanes Spiel statt fester Rollen und ekstatische Zuschauer statt passiver Konsumenten in den Rängen.

Theatersport ist ein Spiel mit fast unbegrenzten Möglichkeiten, aber doch einigen Regeln. Zwei Teams, ein Moderator, ein Schiedsrichter, ein Musiker – und das Publikum: Das macht die Vorschläge, was auf der Bühne geschehen soll, und entscheidet mit farbigen Stimmkärtchen, wer Sieger des Abends sein soll.

Heraus kommt beim Theatersport eine archaische Spielform, in bester Tradition von Stegreif und Commedia dell’Arte. Alles ist improvisiert, Absprachen oder Proben gibt es nicht. Jede Szene ist originär und einzigartig. Improvisationstheater hat sich in den letzten Jahren von einem Independent- zu einem Massenphänomen entwickelt, das selbst schon auf Fernsehformate übertragen wurde.

Am Dienstag, beim ersten Vorrundenspiel in Berlin, sitzen im Shake-Zelt am Ostbahnhof Künstler, Journalisten und eine pubertierende Schulklasse, die vorher lautstark verkündet hat, dass sie lieber „richtigen Sport“ sehen will. Diesen Anspruch scheinen die Schüler aber im Laufe des Abends zu vergessen. Zu hitzig streiten sie über das Ergebnis, glauben dem Schiedsrichter nicht seine abgeschätzte Mehrheit, brüllen „Schiebung!“ Sponteinität ist gefordert, von Schauspielern und Publikum.

Das Ja-Sagen zu den Vorgaben der Mitspieler gehört neben dem Mut zum Scheitern und der Absage an die Originalitätssucht zu den wichtigsten Regeln der Disziplin. Die Handlung ist offen. Das Einzige, was auf keinen Fall entstehen darf, ist Langeweile. Darüber wachen Schiedsrichter und Publikum gleichermaßen. Als das Bollywood-Liebesdrama, das die Mannschaft aus Simbabwe aufführt, in hüftwackelndem Geseufze stagniert, zieht der Schiedsrichter rigoros Punkte wegen zeitschindenden Foulspiels ab. Ein Verfahren, das man sich bei anderen Weltmeisterschaften auch häufiger wünschen würde.

Der Abend im Shake-Zelt endet furios mit einem Musical über Liebe und Umweltverschmutzung. Die Spieler beider Mannschaften rappen, swingen und tanzen, dass Turnvater Johnstone an der Stimmung nichts auszusetzen hätte. Und hier gewinnt auch tatsächlich mal die afrikanische Mannschaft – mit einem umstrittenen Endstand von 23:22. LEA STREISAND

Nächstes Spiel: heute, 20.30 Uhr, Theater Strahl; mehr Infos zum Spielplan der Theatersport-WM in Berlin unter: www.theatersport-berlin.de/wm