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Dann hebt er ab und …

Träumer trifft Wetterfrosch auf kosmischem Ground Zero: Robert Lepage, Regisseur und neuerdings auch Schauspieler, erzählt mit „Die andere Seite des Mondes“ eine anrührende Brudergeschichte

VON DIETMAR KAMMERER

Ein ungleiches Brüderpaar: Philippe ist auf den ersten Blick anzusehen, dass ihm der Misserfolg zur Gewohnheit geworden ist. Die Schultern hängen schlaff herab, jede Geste verrät Unsicherheit. Ganz anders André: die Augen stets geradeaus, das Kinn mit einem modischen Ziegenbärtchen verziert und das Selbstbewusstsein bis zur Eitelkeit gepflegt. Kaum zu glauben, dass beide in Wirklichkeit von ein und derselben Person gespielt werden – und dass Robert Lepage in „Die andere Seite des Mondes“ nicht nur die Belastung dieser Doppelrolle auf sich genommen hat, sondern auch noch für Regie, Drehbuch und Produktion verantwortlich zeichnet.

Mit der Verfilmung seines eigenen Bühnenstücks setzt der kanadische Theaterzauberer Lepage einmal mehr seinen bekannten Stilmix aus fantastischen Bildassoziationen und kalkuliert eingesetzter Illusionstechnik in Szene. Da verwandeln sich Waschtrommeln in Weltraumkapseln, Leute fangen vor Propagandagemälden zum Ruhme der sowjetischen Raumfahrt grundlos an zu schweben, und Gegenwart und Vergangenheit sind nur durch eine Regalwand voneinander getrennt.

Es braucht mal wieder einen solchen Bilderrausch, scheint der Film zu seiner eigenen Rechtfertigung sagen zu wollen – hat doch der Mensch mit seinem Drang ins Unbekannte noch die letzten unberührten Fleckchen auf der Landkarte des Wissens ausgelöscht. Wo keine Lücken mehr sind, kann sich aber auch die Imagination nicht mehr austoben. Für Menschheitsgenerationen war die erdabgewandte Seite des Mondes so ein Anlass für Spekulationen und Fantastereien; seitdem Russland im kosmonautischen Wettstreit der Systeme eine Sonde darüberfliegen ließ, ist jedoch auch dieses Rätsel keines mehr: nichts als zerfurchte und von unzähligen Kometen bombardierte Ödnis. Kein Garten Eden, eher kosmischer Ground Zero.

Kein Wunder, dass die Sowjetunion diese Kraterlandschaft vornehmlich nach ihren Künstlern und Poeten benannt hat. Das scheint ungewollt die These zu betätigen, mit der Philippe seit Jahren vergebens seine Promotion zu beenden versucht: Aller Forschereifer des Menschen sei in Wahrheit nichts als verkappte Eigenliebe. Und der Mensch greife nur deshalb zu den Sternen, um dort sein eigenes Spiegelbild zu installieren. Da die Kommission seine für Wissenschaftler wenig schmeichelhaften Ansichten nicht teilt, wird er wieder einmal abgewiesen.

Also baut Philippe weiterhin Raketenmodelle aus Getränkedosen und Büroutensilien und träumt sich von der Erdoberfläche fort, anstatt das Wagnis zu unternehmen, sich mit dem Hier und Jetzt auseinanderzusetzen. Erst der Selbstmord seiner nierenkranken Mutter zwingt ihn, mit seinem ungeliebten Bruder André Kontakt aufzunehmen.

Der, ganz Erfolgsmensch, arbeitet als Wetterfrosch auf einem wirklich anderen Planeten, beim Fernsehen. Von Berufs wegen steht er ständig vor Bildern des Planeten Erde, die Satellitenkameras aus dem All aufgenommen haben – und hat sozusagen schon längst den Aussichtspunkt eingenommen, den sein Bruder gern hätte. Ohnehin entdecken die beiden im Laufe der Geschichte, in der sie sich wie ein Doppelgestirn umkreisen, immer mehr Ähnlichkeiten aneinander, als sie geahnt hätten. Während Philippe von futuristischen Weltraumaufzügen schwärmt, die nie gebaut werden, bleibt sein Bruder in einem irdischen stecken. Die Sehnsucht nach Transzendenz und Schwerelosigkeit, so darf Philippe schließlich erfahren, kann auch auf der Erde erlöst werden.

Mehr als im Kinosaal ist Robert Lepage eigentlich auf den Theaterfestivals dieser Welt heimisch. Auf Berliner Bühnen hat er in den letzten Jahren regelmäßig gastiert, unter anderem brachte er „Die andere Seite“ als zweieinhalbstündiges Solo-Programm ins Schiller-Theater. Während er auf Theaterbrettern mit schöner Kontinuität Erfolge feiert, fanden seine wenigen Kinofilme meist wenig Gnade: Kunstvoll fabrizierte, aber in ihrer freischwebenden Schönheit letztendlich leerlaufende Selbstbespiegelungen des Regisseurs-Egos, lauteten die gängigen Urteile über Lepages bisherige Leinwandversuche.

In seinem jüngsten Film muss man demgegenüber seinen Willen zum hochfliegenden Effekt fast schon zurückhaltend nennen, so sehr ordnet er die Lust am assoziativen Fabulieren der anrührend erzählten Geschichte der Annäherung zweier Brüder unter.

„Die andere Seite des Mondes“. R: Robert Lepage, D: Robert Lepage, Anne-Marie Cadieux, Marco Poulin. Kanada 2003, 105 Min., OmU; Hackesche Höfe

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