Die Liga pennt nicht

Jürgen Klinsmann sagt, für eine „Fußballnation“ wie Deutschland sei das WM-Viertelfinale zu wenig. Das ist weder richtig, noch kann es Spieler motivieren. Wozu bemüht er anachronistische Muster?

VON ULRICH FUCHS

Deutschland k a n n heute nicht ausscheiden. Sagt Klinsmann. Und warum? „Für eine Fußball-Nation wie uns“, sagt der Bundestrainer, „kann das Viertelfinale nicht der Maßstab sein.“ Was erstens keine Antwort ist und zweitens nicht stimmt.

Verlieren die Deutschen gegen Argentinien, dann wäre das eine Niederlage gegen das derzeit vielleicht beste nationale Auswahlteam der Welt. Es wäre also – Pardon – ziemlich normal. Wenn die deutsche Fußball-Nation in persona des Bundestrainers einen anderen Maßstab zur Hand nimmt, klingt das dagegen ziemlich vermessen.

„Für eine Nation wie Deutschland als dreifacher Weltmeister und WM-Gastgeber“, hat Klinsmann ergänzt, „kann nach einem Viertelfinale nicht Ende sein.“ Noch mal: Doch. Kann.

Die Chancen dafür stehen heute gar nicht so schlecht. Fifty-fifty vielleicht. Aber nur wenn man die besseren Individualisten und die reifere Spielanlage der Argentinier optimistisch (aus Sicht der Deutschen) mit dem Heimvorteil einer euphorisierten Gastgebermannschaft gegenrechnet.

Aber nicht nur, weil sie inhaltlich daneben liegt, darf man sich über Klinsmanns Aussage wundern. Seine Begründung für das Nicht-ausscheiden-Können folgt dazu noch Argumentationsmustern, mit denen in Deutschland lange verhindert wurde, dass sich ein Konzeptfußball durchsetzen konnte, wie er ihn spielen lassen will.

Für ausgefeilte taktische Konzepte galten hierzulande immer eher die Italiener zuständig und für das gute Pass- und Kombinationsspiel die Holländer oder in der Schnörkelausgabe die Portugiesen und Letztere zusammen mit den Brasilianern für die perfekte individuelle technische Ausbildung. Für sich selber beanspruchten die Deutschen Physis, Disziplin und Willen. Die anderen spielen vielleicht besser, hieß es, aber am Ende gewinnen wir. Den Status der großen Fußballnation als Legitimation zu bemühen ist ein Relikt aus diesen Zeiten des Heroen-Fußballs. Konzeptfußball lebt dagegen gerade davon, dass keine Erbhöfe existieren. Verbindlich ist allein das Konzept, dem sich alle und alles unterordnen müssen.

Warum bemüht Klinsmann dann diese anachronistischen Muster? Um seine Spieler zu motivieren? Glauben will man das nicht wirklich. Weil man nicht glauben kann, dass erfahrene Spieler wie Michael Ballack oder Bernd Schneider den Rekurs auf die Tradition der Fußballnation (die in diesen speziellen Fällen noch nicht einmal ihre war) auch nur irgendwie als stimulierend empfinden. Und junge Aufgeklärte wie Philipp Lahm oder Per Mertesacker auch nicht. Und weil man nicht glauben mag, dass Jürgen Klinsmann glaubt, es wäre anders.

Aber vielleicht liegt da ja der Fehler. Vielleicht erwartet man nun schon zu viel vom unerfahrenen Bundestrainer. Nachdem es endlich auch auf der DFB-Auswahlebene ein Stückchen vorangegangen ist mit dem Konzeptfußball. Vielleicht will man deshalb lieber vergessen, dass Klinsmann als Spieler immer zur Fraktion zählte, die forderte, „sich den Hintern aufzureißen“ für Deutschland. Dass er sozialisiert wurde im deutschen System des Heroenfußballs. Und dass ein Emanzipationsprozess immer Zeit braucht und nur Stück für Stück vorangeht.

Klinsmann war lange Spieler, und er war nie Trainer, bevor er Bundestrainer wurde. Er lebt im Ausland, und er hat damit auch die Entwicklungen im deutschen Fußball nur aus der Distanz verfolgt. Das macht die Sache nicht leichter. Zumal der mediale Druck vor und während der Heim-WM exorbitant war und ist. Weshalb man auch ein bisschen nachvollziehen kann, wenn Klinsmann und seine Entourage eine Art Wagenburg-Mentalität entwickelt haben. Dass die sich nach den ersten Erfolgen als Wir-sind-die-Spitze-der-Reformbewegung-Geste geriert, ist ähnlich ungeschickt wie die Aussage, dass man im Viertelfinale nicht verlieren kann.

In der Bundesliga wird nicht gepennt, was die Fortentwicklung des Spiels angeht, wie das Oliver Bierhoffs Begriff vom „Dornröschenschlaf“ suggeriert. Die deutschen Schlüsselspieler Klose und Frings spielen in Bremen jenen Konzeptfußball auf der Höhe der Zeit, den Ballack, der Kopf des DFB-Teams, und Schneider schon vor vier Jahren mit Leverkusen auf europäischem Top-Niveau zelebrierten; und Lahm, der Shooting-Star, hat ganz offensichtlich eine taktisch ausgezeichnete Ausbildung genossen, wie sie mittlerweile in den Nachwuchsleistungszentren der meisten Bundesligisten zum Standard zählt. Und das sind nur ein paar Beispiele. Die auch für die deutsche Chance gegen Argentinien stehen – und weit mehr als der vergangene Ruhm der deutschen Fußballnation.

ULRICH FUCHS ist Mitglied des WM-Analyseteams der taz und Autor (mit Christoph Biermann) von „Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann“. Das Buch leitete die Verfachlichung des Fußballdiskurses in Deutschland ein