Mythen für die Oberstufe

Was haben die 68er eigentlich hervorgebracht? Guido Westerwelle, ein paar Hochschulpräsidenten und eine allgemeine Gleichgültigkeit

VON FRANZ WALTER

Wegen meiner zotteligen Haare und dauerpubertären T-Shirts gelte ich als „68er“. Immer wieder erhalte ich auf meine publizistischen Meinungsäußerungen wütende Briefe, und ganz regelmäßig werde ich darin als der ewige „68er“ geschmäht. Da ich selbst – wie sagt man – mitunter kräftig austeile, bin ich gerne bereit einzustecken.

Doch der 68er-Vorwurf trifft mich irgendwie ziemlich hart. Erstens war ich in jenem berüchtigten Jahr gerade einmal 12 Jahre alt und interessierte mich ausschließlich für Fußball. Politik reizte mich überhaupt nicht – erst recht galt dies für die studentischen Roten Garden. Zweitens wohnte ich auch in den Jahren danach nie in einer Kommune, rauchte nie einen Joint, schwärmte nie für „Grateful Dead“, sondern blieb stattdessen über drei Jahrzehnte stets treu und grundsolide an der Seite der immergleichen Frau.

Schon aufgrund solcher Spießigkeiten und einer zutiefst proletarischen Herkunft habe ich die „68er“-Zeit meines postadoleszenten Lebens nicht sonderlich gemocht, ja mehr noch: regelrecht verachtet. Als umso bitterer empfinde ich es daher, ausgerechnet dieser Truppe gehätschelter Zöglinge der Bourgeoisie zugerechnet zu werden.

Dabei konnte ich deren merkwürdige Mischung aus selbstgerechtem Moralismus und bräsigem Zynismus niemals ausstehen. Ich wundere mich auch heute noch über ihre intellektuelle Hochnäsigkeit, obwohl sie nicht einen einzigen klugen Theoretiker von Rang hervorgebracht haben; ihre wichtigsten Stichwortgeber gehörten allesamt der Generation zuvor an.

Ich finde es grotesk, wie die 68er sich alle fünf, zumindest jedenfalls alle zehn Jahre selbst feiern und dabei am eigenen, wenngleich reichlich verwelkten Mythos berauschen, aber in all den Jahren nicht einmal eine einigermaßen lesbare Geschichte ihrer gerne beweihräucherten Revolte zustande bekommen haben.

Gleichwohl, sie haben es geschafft: Mit Ausnahme einiger verbiesterter Konservativer glaubt inzwischen eigentlich jeder halbwegs liberale Mensch dieser Republik, dass erst nach 1968 das aufgeklärte und tolerante Zeitalter der Bonner Demokratie nach dem schlimmen autoritären Muff und Mief einer kleinbürgerlichen Adenauer-Ära begonnen habe. Und so agieren die 68er mittlerweile auch in kultusministeriell abgesegneten Sozialkundebüchern für die Sekundarstufe II als Vorkämpfer eines offenherzigen liberalen Wertewandels und als Pioniere postfaschistischer Modernität.

Das ist wohlfeil, aber überzeugend ist es nicht. Die so genannte APO war lediglich Ausstoß der Modernisierung, keineswegs ihr Anstoß. Schlimmer noch: In mancher Hinsicht haben die rebellierenden 68er den Modernisierungsprozess der Sechzigerjahre eher gebremst, haben den laufenden Liberalisierung- und Reformprozess der Gesellschaft gar unterbrochen, zumindest verwirrt. Moderner, urbaner und liberaler wurde die Republik jedenfalls längst vor 1968. Und entscheidend für den Wandel des Landes waren nicht die unendlich albernen Happenings der Kommune II, auch nicht die deprimierend konfusen Traktate der ideologischen Wortführer, konstitutiv waren vielmehr die großen gesellschaftlichen Transformationen in den Jahren zuvor.

Das begann schon in den vermeintlich restaurativen Fünfzigern. In diesem Jahrzehnt sank das agrarische Deutschland in einer historisch beispiellosen Dynamik dahin. Das aber zerstörte die Reservate deutschnationaler-konservativer Mentalitäten in ungleich höherem Maße als alle trunkenen Teach-ins, lärmenden Demos und übermütigen Rektoratsbesetzungen zweiundzwanzigjähriger Studenten einer trostlosen Soziologie. Die Entprovinzialisierung sorgte für die Enttraditionalisierung der Gesellschaft, bewirkte vor allem die Entklerikalisierung der Republik. In den frühen Sechzigerjahren begann die lange Krise des Katholizismus. Das katholische Volk folgte jetzt nicht mehr in allem und jedem seinen bischöflichen Hirten. Den Konfessionsschulen gingen allmählich die Kinder aus. Und dem Protestantismus liefen erst recht die Gläubigen auf und davon. Das säkularisierte die Kulturen und Milieus im Lande – vor 1968.

Doch ging in den frühen Sechzigerjahren nicht nur das vormoderne-ländliche Deutschland unter. Auch die industriegesellschaftlichen Strukturen gerieten ab 1965 gegenüber den neuen und stetig wachsenden dienstleistenden Sektoren peu à peu in die Defensive. Der Treibstoff dieser Entwicklung war die Bildungsexpansion, die aber nicht erst nach 1968 einsetzte, sondern schon in den frühen Sechzigerjahren kräftig begonnen hatte. Alle Pläne für die späteren Reformuniversitäten wurden in diesen Jahren ausgetüftelt und verabschiedet. Schon zwischen 1960 und 1965 verdoppelte sich das wissenschaftliche Personal an den deutschen Hochschulen. Und ab Mitte der Sechzigerjahre fiel das zäh überlieferte Bildungsprivileg des protestantischen Bürgertums, da jetzt auch sozialdemokratische Facharbeiterkinder sowie katholische Bauernsöhne und -töchter in erheblicher Zahl zum Gymnasium drängten. Die sozialkulturellen Grenzen schliffen sich für knapp zwei Jahrzehnte dadurch ab, die sozialen Rollen verflüssigten sich. Es entstand eine neue breite Mitte in Deutschland – gebildeter, urbaner und auch kosmopolitischer als der alte Mittelstand von ehedem. CDU und CSU haben sich bis heute von diesem Wandel der Mitte politisch noch nicht recht erholt, wie die letzten drei Bundestagswahlen signifikant gezeigt haben.

Das alles hatte längst vor 1968 seinen Anfang genommen, hatte auch Kultur und Lebensweisen der Republik schon neu geprägt. Das „Yeah, yeah, yeah“ der Pilzköpfe aus Liverpool tönte bereits ein halbes Jahrzehnt vor 1968 aus den Radiogeräten der jungen Deutschen, die im gleichen Jahr ebenfalls für den jungen amerikanischen Reformpräsidenten Kennedy schwärmten. Die Literaten fochten schon 1961 für einen politischen Machtwechsel; die jungen Filmemacher formulierten ein Jahr später ihr „Oberhausener Manifest“. Auch die ersten Miniröcke waren auf den Straßen früher als die Demonstrationszüge der bärtigen SDS-Agitatoren zu sehen. Und das zweifelhafte Vergnügen der Sexwelle leitete gewiss eher Oswalt Kolle ein als die im Grunde ganz verklemmten Berliner Kommunarden.

Schließlich war auch die Politik schon im Umschlag von den 1950er- zu den 1960er-Jahren in Bewegung geraten. Bei den Bundestagswahlen 1961 hatte erstmals eine bemerkenswerte Zahl von Wählern das politische Lager gewechselt. Die Parteien selbst emanzipierten sich in jenen Jahren von den überkommen Lagerkulturen und erloschener Ideologien. Die SPD entproletarisierte sich und nahm Abschied von der abgelebten Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. Die Union löste sich aus der patriarchalischen Führung des greisen Kanzlers von Rhöndorf. In der FDP ging die nationalliberale Ära langsam zu Ende. Dadurch lockerten sich die starren politischen Positionen und fixierten Bündnisse der Fünfziger.

In diesen gesellschaftlichen Auflockerungsprozess brachen dann die 68er ein. Die 68er attackierten, was eh nicht mehr zu halten war; sie provozierten gegen Konventionen, die auch so bereits erodierten. Sie stürmten mit großer Geste Tore, die längst sperrangelweit offen standen. Doch begann damit nicht die Fundamentalliberalisierung der Republik, wie es in den Legenden der 68er seit den Achtzigerjahren gern und oft erzählt wird. Die 68er Revolte war keine liberale Rebellion. Niemanden denunzierten die APO-Aktivisten lustvoller als die „liberalen Scheißer“; über nichts konnten sie sich höhnischer und dümmlicher mokieren als über Begriffe wie „Demokratie“, „freiheitliche Verfassung“, „Gewaltenteilung“. Die 68er zeigten auf ihren Kundgebungen nicht die Porträts von Friedrich Naumann, Max Weber oder gar Isaiah Berlin; sie schmückten sich stattdessen mit den Konterfeis von totalitären Massenmördern wie Lenin, Stalin und Mao Tse-tung. Einen liberalen Raum haben die 68er auch nicht in ihrem eigenen Umfeld geschaffen. Die 68er waren auf den universitären Versammlungen ihrer Generation im Gegenteil virtuose Manipulierer von Rednerlisten und raffinierte Exegeten der Geschäftsordnungen.

Politisch sorgte die martialische, klammheimlich an Carl Schmitt geschulte Feind- und Kampfrhetorik, die kalte Sprache, die aggressive Militanz schließlich für ungeheure Verwirrung. Die Sozialdemokraten und Freien Demokraten wurden in ihrer Entwicklung zurückgeworfen, die Union durch die 68er gewissermaßen gestärkt. Die Parteibildung der Union vollzog sich erst nach 1968 und in Reaktion darauf. Die Furcht vor Konfliktpädagogen und Sozialisierungstheoretikern aus der 68er-Kohorte trieb die bis dahin assoziationsunwilligen bürgerlichen Honoratiorenschichten während der Siebzigerjahre in Scharen in die CDU des obersten Organisationsoffiziers Kurt Biedenkopf. Erst in diesem Jahrzehnt wurde die Union zur Sammelpartei des Bürgertums rechts von der Mitte; in diesem Jahrzehnt wuchsen politisch die Kampf- und Kadertruppen der Jungen Union heran, die heute flächendeckend die Ministerpräsidenten der Republik stellen, von Koch bis Wulff, von Rüttgers bis Oettinger, von Müller bis zu von Beust. In den Bundesländern holte die Union während der 1970er-Jahre fulminante Mehrheiten wie niemals zuvor und danach. Es wurden die triumphalen Jahre für die rüden Rechtsausleger Filbinger, Dregger und Strauß, die ohne 68 ihre polarisierende Kontrastparole „Freiheit oder Sozialismus“ nicht unter das verängstigte bürgerliche Volk hätten bringen können.

Einigermaßen verheerend aber wirkte sich der lange Marsch der 68er durch die Parteiinstitutionen von FDP und SPD aus. Das Unheil, das die 68er über die SPD brachten, ist hinreichend bekannt. Sehr viel weniger geriet demgegenüber die fatale Wirkung des Scheinradikalismus auf die FDP in den Blick. Dabei hatten die Freien Demokraten in den frühen Sechzigerjahren noch die weitaus kreativste Jugendorganisation.

Diese Jungdemokraten dachten als Erste die neue Ostpolitik vor und modellierten früh an einem zeitgemäßen, linksliberalen Freisinn der neuen bürgerlichen Schichten. Dann aber kam 1968, und die Jungdemokraten degenerierten binnen weniger Jahre zu einem absurden linkssozialistischen Konventikel. Ihr größter Feind war bezeichnenderweise der besonnene linksliberale Vordenker Karl-Hermann Flach. Der Sozialismustrip der Jungdemokraten im Gefolge von 1968 schwächte den radikaldemokratischen-linksliberalen Flügel in der FDP enorm. So gingen die Freien Demokraten am Ende wieder nach rechts, in das Lager der Union zurück. Ohne 68 wäre auch Kohl als Kanzler wahrscheinlich nur schwer möglich gewesen.

Dabei hatte nichts von den politischen Konzepten aus den 68er-Biografien Bestand. Kulturrevolution, Planwirtschaft, Rätesystem, Kaderparteien, imperatives Mandat, Basisdemokratie – verflogen und vergessen dies alles, gleichgültig weggelegt wie Kinderspielzeug. Mindestens ebenso schlimm ist, dass sich seit einigen Jahren genügend Universitätspräsidenten und -dekane dieser Kohorte finden, die ähnlich unbekümmert und großmäulig wie beim rot drapierten Geschwätz zuvor nun die neuen Zelluloidphrasen von „Exzellenz“, „Cluster“ und „Synergie“ dreschen – hohl und kernlos wie ihre ganze politische und wissenschaftliche Biografie. Eigentlich eine ziemlich deprimierende Bilanz. Aber irgendwie wirkten die 68er niemals zerknirscht, reuig oder enttäuscht. Denn sie haben natürlich das Ganze gar nicht sonderlich ernst genommen. Sie haben mit ihren früheren wortradikalen Losungen nur die autoritären Väter und deutschnationalen Lehrer schockieren wollen, was auch vorzüglich funktionierte. Und danach haben sie einfach, wegen der leichten Erfolge mit dieser Methode, weiter ein bisschen herumgedröhnt.

Weithin übersehen wurde indes, wie sehr sie gerade damit den Boden für den nachfolgenden „Neoliberalismus“ bereiteten. Guido Westerwelle ist erheblich mehr Kind von 68, als ihm das selbst bewusst und lieb sein dürfte. Denn das politische Instrument dieser Generation war die Provokation und die Regelverletzung, von den Puddingbomben und Orgasmusdefizitbekenntnissen der Kommunarden bis zu den punktuellen Tabubrüchen der Lafontaines und auch Schröders, mit denen sie ihren Aufstieg in der SPD gegen die konventionalistische „Generation Vogel“ bewirkten. Westerwelle, auch Jürgen Möllemann waren hier lediglich Nachahmungstäter der pionierhaften Troubleshooter von 68 ff.

Auch die viel gerühmte Werte- und Lebensstiltoleranz der 68er, besonders ihrer rot-grünen Epigonen war oft nur normative Indifferenz, an deren Maßstab gemessen eben alles gleich gültig war. Dergleichen Nonchalance führte dann ebenfalls in die Wurschtigkeit des freidemokratischen Vorsitzenden und seine zwischenzeitlichen Spaßkampagnen. So weit war der Weg nicht von Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann zu Guido Westerwelle und seinen jungliberalen Harlekinen.

Die Politik des beliebigen, spielerischen Affronts hat viel beschädigt: Institutionen, Traditionen, übrigens auch Menschen. Vor allem aber hat sie vereitelt, dass ein stabiler und verlässlich orientierender Wertekern erhalten blieb oder sich neu herausbildete. So wurde bezeichnenderweise das Werte- und Deutungsvakuum in der Regentenzeit von Rot-Grün zum entscheidenden Problem, das bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht. Man weiß aus der Sozialpsychologie, dass Menschen nur dann aktiv, zielorientiert und selbstbewusst handeln können, wenn sie über ein konsistentes Normensystem verfügen. Fehlt ihnen ein solches Interpretationsset oder ist es in Unordnung geraten, dann machen sich Ängste breit, Hilflosigkeiten, Pessimismus. Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, reagieren konformistisch, suchen Sündenböcke. Eben so präsentiert sich die deutsche Gesellschaft im derzeitigen Übergang der 68er in den Pensionärsstand.

Eine politische Generation waren die 68er nie. Im Grunde charakterisieren sich wohl die bekannten, markanten, geschichtsträchtigen „Generationen“ in erster Linie kulturell. Das war schon bei den Akteuren der Wandervogelbewegung um 1900 so, dann auch bei den Aktivisten der Bündischen Jugend dreißig Jahre später. All die großen, oft genug literarisch verklärten Generationen hatten einige auffällige Defekte: Es gab in ihren Reihen und Organisationen stets unzählige Spaltungen und erbitterte Gruppenkämpfe. Immer wieder rutschten sie in exaltierte Dogmatismen und Sektierereien ab. Ihre Anführer waren häufig genug bizarre, weltfremde und verstiegene Sonderlinge. Bedeutende Politiker brachten sie kaum einmal hervor. Ebendas ist mein Problem mit den 68ern: ihr Defizit an Politik; ihr Mangel an einem ernsthaften, klugen, lebensnahen, realistischen, zäh und konstant betriebenen, dabei volkstümlichen, listigen, strategischen und zielorientierten Radikalreformismus. Am Ende war 68 lediglich ein spätbürgerliches Distinktionsgebaren, die Hoffnung, mit dem sperrig esoterischen Vokabular von Adorno, Marcuse, Horkheimer und ein bisschen Marx noch einmal auf geistesaristokratischen Höhen Abstand und Distanz zu den als „eindimensional“ verachteten niederen Massen zu wahren.

Am nachhaltigsten wirken sich die Alternativigkeiten von Kulturgenerationen noch im Habitus, bei Sprachformeln, in der Kleidung und in Umgangsformen schlechthin aus. So gesehen haben meine Kritiker vielleicht doch ein wenig Recht: Aus dieser Perspektive bin ich wohl tatsächlich ein bisschen 68. Komisch eigentlich. Doch welcher 68er sieht heute noch so aus, wie man sich klischeehaft einen 68er vorstellt? Irgendwie ist das zumindest ein Trost.

FRANZ WALTER, Jahrgang 1956, ist Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen. Sein jüngstes Werk: „Die ziellose Republik. Gezeitenwechsel in Gesellschaft und Politik“, KiWi Verlag, Köln 2006, 240 Seiten, 8,95 Euro