BILDUNG EINES MOBS
: Alle mal gleich

War das der türkische Gemüsehändler, der eben „Fuck you, nigger!“ geschrien hat?

Können diese Hausschuhe für fünf Euro der Tochter in der Schule als Fußbekleidung im Klassenzimmer dienen? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich an einem Samstagnachmittag die Auslagen eines Schuhgeschäfts auf der Ritterstraße in Kreuzberg studiere.

Da kracht etwas in mich herein, reißt mich fast nieder. Eine junge Afroamerikanerin auf dem Fahrrad, die mich anbrüllt: „I did ring the bell, you asshole.“ Asshole mit newyorkerisch langem E. Eeeeshol.

Zum Glück war ich noch nie in einem Lynchmob. Aber wenn ich je gesehen habe, wie die Menschen in der Masse „ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als Gleiche fühlen“, wie Elias Canetti es beschreibt, dann hier und jetzt. Bei dem guten Dutzend Passanten, die die Radfahrerin angerempelt hat, bevor sie in mich gekracht ist, scheinen in einem Augenblick in einem kollektiven Ausraster zusammenzufallen: die Erinnerung an viele Demütigungen im Straßenverkehr und das generelle Unbehagen über die sich in Kreuzberg einbürgernden Expats.

Dank einer Person, die weder der deutschen Sprache mächtig ist, noch die hiesige Straßenverkehrsordnung zu kennen scheint, die Leute über den Haufen fährt und dann noch frech wird, sind für einen Augenblick alle „Gleiche“. Es erhebt sich ein kollektiver Aufschrei der Empörung. Fäuste werden geschüttelt.

War das wirklich der biedere türkische Gemüsehändler im weißen Kittel, der eben „Fuck you, nigger!“ geschrien hat? Ja! Ist da gerade eine Gurke geflogen? Ja! Versucht da etwa jemand, die Radlerin zu Fuß einzuholen? Ja! Ob die junge Frau weiß, dass sie nur dank ihres Fahrrads unbehelligt davongekommen ist?

Ich habe gesehen, wie brüchig der Kitt der Zivilisation in Berlin sein kann. Und ich habe die Billigschuhe gekauft. Die sind sowieso gleich wieder verschlampt. TILMAN BAUMGÄRTEL