Eine Ehrensuche

Was ist eigentlich Ehre? 13 junge Erwachsene aus Kreuzberg gingen nach dem „Ehrenmord“ an der 23-jährigen Hatun Sürücü dieser Frage nach. Ihr Resümee: Jeder definiert den Begriff anders

VON NADJA DUMOUCHEL

„Merhaba“ – guten Tag –, sagt Arzu Keles und geht auf eine Gruppe Männer zu. Sie sitzen im Schatten auf der Terrasse des Cafés Liman am Kottbusser Damm und gucken neugierig auf die Truppe Jugendlicher, die schwer beladen auf sie zukommt. Arzu Keles spricht die Männer auf Türkisch an. Ihre Gruppe habe unter professioneller Leitung eine Zeitschrift produziert, erzählt sie. Der Titel des Magazins: Ehrensache. „Ehre, davon gibt es in Deutschland nicht so viel“, sagt einer der Männer. Ein anderer fragt: „Wenn die Zeitschrift für uns ist, warum ist sie dann nicht auf Türkisch?“ Geduldig erklärt die junge Frau, deren Haar ein helles Kopftuch bedeckt, dass das Magazin auch Deutsche lesen sollen. Daraufhin blättert der ausschließlich türkischsprechende Mann interessiert in der Zeitschrift und sagt schließlich: „Ich kann es leider nicht lesen. Aber ich bringe es meinen Kindern mit.“

Das Thema Ehre beschäftigt die 13 jungen Menschen zwischen 16 und 26, die an diesem heißen Nachmittag ihr 54 Hochglanzseiten starkes Werk auf den Kreuzberger Straßen verteilen, seit mehreren Monaten. Ihre unterschiedlichen Hintergründe spiegeln auch die Vielfalt des Bezirks wieder. Der Philosophiestudent Maximilian Kowatsch, die deutsch-peruanische Schülerin Laura Valdivia Carpio und die türkischstämmige Arzu Keles verbindet auf dem ersten Blick nur, dass sie alle im gleichen Kiez leben. Nun haben sie zusammen mit den anderen jungen Erwachsenen intensiv eine Antwort auf die Frage gesucht: Was ist eigentlich Ehre?

Jeder hat für sich eine andere Definition gefunden. Für Arzu Keles zum Beispiel bedeutet Ehre, ihren eigenen Grundsätzen treu zu bleiben. „Weil Ehre nur mein persönliches Handeln betrifft, können andere sie gar nicht verletzen“, sagt sie.

Die Initiatorin des Projekts, Tania Mourinho, möchte mit „Ehrensache“ junge Menschen aus Kreuzberg zu Wort kommen lassen, denn sie würden nach Mourinhos Meinung von den Medien zu einseitig dargestellt. Angeregt wurde die Kommunikationsdesignerin durch die Berichterstattung über den so genannten Ehrenmord an Hatun Sürücü. Die 23-Jährige war im Februar vergangenen Jahres in Tempelhof von ihrem Bruder auf offener Straße mit drei Schüssen niedergestreckt worden. Im April wurde er zu neun Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er sie umbrachte, weil er ihren westlichen Lebensstil verachtete. Hatun Sürücü hatte sich aus einer arrangierten Ehe mit einem Cousin in der Türkei getrennt und war schwanger nach Berlin zurückgekommen. Später legte sie das Kopftuch ab und hatte mehrere Beziehungen mit Männern. Der Mord hatte bundesweit eine Debatte über Zwangsheiraten, Ehrenmorde und Parallelgesellschaften ausgelöst.

„Nicht selten wurden danach Migrations- und Frauenrechtsfragen undifferenziert in einen Topf geworfen“, erinnert sich Mourinho. Und: Das Wort Ehre sei in den Medien immer wieder aufgetaucht. Der Begriff Ehre gekoppelt mit dem Wort Mord habe für sie eine zentrale Frage aufgeworfen: „Wenn Ehre das Tatmotiv für einen Mord ist, was zum Teufel ist dann Ehre?“ Sie selbst benutze das Wort eigentlich nie, außer vielleicht in dem Satz „sehr geehrte Damen und Herren“.

Für die 31-jährige Freiberuflerin stand schnell fest, dass sie sich im Rahmen eines eigenen interdisziplinären Projektes mit dem Thema auseinandersetzen wollte. Sie habe die Bandbreite des Viertels und seiner Jugendlichen zeigen und so gegen deren Stigmatisierung angehen wollen, erklärt sie ihr Ziel. Eine Zeitschrift zu machen habe nahe gelegen, da sie schon viel mit Printmedien gearbeitet habe. Um die Verbindung von Text und Bild auf anspruchsvollem Niveau zu gewährleisten, sprach sie eine befreundete Journalistin an. Sie übernahm die Betreuung der Praktikanten beim Schreiben.

Über Zettel in Jugendeinrichtungen suchte Mourinho Teilnehmer. Etwa 20 Menschen hätten sich gemeldet, erinnert sie sich. Von den 15, die übrig blieben, als die Arbeit anfing, sind lediglich zwei im Laufe der Zeit abgesprungen.

„Die Jugendlichen haben durch die Erfolgserlebnisse an Selbstvertrauen gewonnen“, zieht die Projektleiterin Bilanz. Die Gruppe habe sehr eng zusammengearbeitet. „Es gab eine hohe Akzeptanz gegenüber anderen Meinungen in der Gruppe“, sagt Mourinho. Später hätten sie zusammen den Begriff Ehre „in seine Bestandteile“ zerlegt: „Ich wollte das Wort entmystifizieren und somit seine Schlagkraft nehmen. Es war mir wichtig zu wissen, worüber wir reden.“

Die Zeitschrift ist so bunt geworden wie die verschiedenen Aspekte von Ehre, die sie beleuchtet. „Ich hätte nie gedacht, dass das Heft so anspruchsvoll wird“, freut sich Arzu Keles. Sie ist die Älteste in der Gruppe. Die gläubige Muslimin, die als Kind mit ihrer Nachbarin Hatun Sürücü in die Moschee ging, hat den Text über Ehre im Koran geschrieben. „Dafür habe ich den ganzen Koran noch einmal gelesen.“ Dabei ist sie zu dem Schluss gekommen, dass der Koran „Ehre, die verloren und durch Gewalttaten wiederhergestellt wird“, nicht kennt. Ihrem Beitrag folgt ein Essay über Ehre im Christentum. Kurzgeschichten wechseln sich mit Porträts von Werktätigen und ihrer „Berufsehre“ ab. Ein Lexikon der Ehre zum Herausnehmen bildet die humorvolle Komponente.

Arzu Keles hofft, dass die Menschen, die sie auf der Straße angesprochen hat, zum Diskutieren animiert werden und die verschiedenen Definitionen von Ehre akzeptieren. „Es muss mehr Toleranz geben“, findet sie. Nicht jeder ist jedoch für ihr Anliegen besonders offen. Ein Frisör in der Adalbertstraße ist zunächst unschlüssig, was er mit dem Heft anfangen soll. Schließlich sagt er zu Arzu Keles, sie solle es auf den Stapel von Frauenzeitschriften legen. „Die Männer lesen es sowieso nicht“, erklärt er.

Mittlerweile ist es schon spät. Streng fordert Arzu Keles den Rest der Gruppe auf, sie abzulösen und selbst Passanten anzusprechen. Doch dann bleibt sie wieder vor einem Café stehen und wiederholt den Satz: „Guten Tag, wir haben über Ehre geschrieben.“