„Der Weg ist ziviler Ungehorsam“

Interview Bahman Nirumand

taz: Herr Gandschi, Sie haben sechs Jahre in Haft verbracht, zu einem großen Teil in Einzelhaft. Was hat Sie am meisten gequält?

Akbar Gandschi: Das kann ich nicht genau sagen. In der Einzelhaft hatte ich nur mich und meine Gedanken, es gab keine Bücher, kein Radio, kein Fernsehen. Ich war völlig isoliert in einem engen Raum. Meine Gedanken drehten sich natürlich um die Probleme meines Landes, um meine Familie und meine Freunde. Mich beschäftigte zum Beispiel die Frage, warum unser Land immer von Diktaturen beherrscht wurde. Schauen Sie, wir Intellektuellen haben immer das Volk glorifiziert und die Schuld dem herrschenden System gegeben. Doch ich denke, jedes politische System passt irgendwie zu dem Volk, das es regiert. Folglich müssen auch Diktaturen, die uns beherrscht haben, in Zusammenhang mit unserer Kultur und unserer Geschichte gesehen werden. Wenn wir also Demokratie wollen, müssen wir uns nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit dem Volk auseinander setzen.

Ihr siebzigtägiger Hungerstreik hätte Sie das Leben kosten können. Dabei wussten sie doch, dass Ihr Protest keine grundsätzliche Änderung der politischen Verhältnisse bringen konnte. Wollten Sie als Held gefeiert werden?

Nein, ich wollte kein Held werden, auch keine Rache üben. Denn schon bevor ich ins Gefängnis kam, hatte ich oft geschrieben, dass wir lernen müssen, zu verzeihen, aber nicht zu vergessen. Ich versuche, nach diesem Grundsatz zu leben. Natürlich hatte ich viel Wut im Bauch. Ich war mir aber darüber im Klaren, dass wir durch Rache und Hass keine Demokratie aufbauen können. Unsere Revolution gegen die Schah-Diktatur konnte nicht zuletzt deswegen nicht in Freiheit und Demokratie münden, weil da Rache, Hass und Gewalt vorgeherrscht haben.

In Ihrem Denken spielt das Individuum eine zentrale Rolle. Wie lässt sich das mit der Bereitschaft zur Selbstvernichtung durch Hungerstreik vereinbaren?

Sie konnten im Gefängnis mit mir anstellen, was sie wollten. Sie wollten mich dazu zwingen, öffentlich im Fernsehen meine Ansichten zu widerrufen, Reuebekenntnisse abzulegen. Das war mit meiner Menschenwürde nicht vereinbar. Ich musste diese Würde verteidigen.

Sie gehörten zu Beginn der Revolution zu den treuesten Anhängern des islamischen Gottesstaates. Heute, nach 27 Jahren, gehören Sie zu den radikalsten Verfechtern eines säkularen Staates. Eine ähnliche Entwicklung kann man bei vielen Intellektuellen, ja sogar bei Geistlichen feststellen. Was sind die Ursachen? Warum der Sinneswandel?

Was mich betrifft, gibt es dafür sowohl persönliche als auch gesellschaftlich-politische Gründe. Ich habe keine Ideologie.

Das trifft aber nicht für die ersten Jahre der Revolution zu.

Ich habe nie an etwas geglaubt, was Marx „falsches Bewusstsein“ nennt, etwas, das sich vor der Außenwelt verschließt und nicht bereit ist, sich durch die Realität korrigieren zu lassen. Aber ich habe ideologisch gehandelt. Genauso wie dogmatische Marxisten meinten wir Muslime, die Wahrheit gepachtet zu haben. Wir dachten, unser Land nach der Revolution in ein Paradies verwandeln zu können. Das wollen alle Revolutionäre. Doch nach dem Sieg der Revolution entsteht kein Paradies, sondern die Hölle. Wer diese Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der Realität sieht, kann sie, wenn er ehrlich ist, nicht hinnehmen. Gewöhnlich verurteilt man zunächst sich selbst, denn die Revolution ist heilig. Im zweiten Schritt wirft man der Führung vor, die Ideale der Revolution verraten zu haben. Erst im dritten Schritt wird die Revolution selbst in Frage gestellt – man gelangt zu der Erkenntnis, dass eine Revolution nicht zur Demokratie führen kann. Schließlich stellt man die Ideologie, die hinter der Revolution steht, in Frage. Das sind genau die Etappen, die viele, auch ich, zurückgelegt haben. Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass die heiligen Glaubenssätze sich unterschiedlich interpretieren lassen. Man kann aus ihnen faschistoide Schlüsse ziehen, wie es die Terroristen, die Taliban oder al-Qaida tun, man kann sie aber auch demokratisch, human auffassen.

Auch der frühere Präsident Chatami hat acht Jahre lang versucht, den islamischen Gottesstaat zu reformieren, und ist dabei gescheitert. Warum?

Die Reformer sind gescheitert, weil sie erstens kein klares Konzept hatten und zweitens nicht ausreichend Widerstand geleistet haben. Sie haben immer den Rechten und Konservativen nachgegeben.

Chatami hatte eine Zivilgesellschaft verkündet.

Er wollte dem Gottesstaat ein humaneres Gesicht verleihen, eine, wie er sich ausdrückte, religiöse Demokratie. Das ist ein Widerspruch in sich. Eine Demokratie kann nur säkular sein. Unser Ziel ist ein moderner Staat, eine Republik frei von jeglicher Ideologie.

Wie wollen Sie dieses Ziel, diese Umwälzung des politischen Systems, erreichen?

Durch zivilen Ungehorsam. Unser Weg muss ohne Gewalt sein. Aber wir müssen dazu bereit sein, überall, wo die Menschenrechte missachtet werden, Widerstand zu leisten. Schauen Sie, mich hat ein Gericht wegen Aktivitäten gegen den islamischen Staat zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil heißt zugleich, dass ich bis zu meinem Lebensende Schreibverbot habe und auch meine Meinung nicht öffentlich äußern darf. Ich werde mich selbstverständlich nicht daran halten. Damit riskiere ich, dass ich wieder ins Gefängnis geworfen werde. Dieses Risiko muss man in Kauf nehmen. Je mehr Menschen das tun, desto schneller erreichen wir unser Ziel.

Das ist ein langer Weg, denn nicht jeder ist bereit, seine Freiheit oder gar sein Leben zu riskieren.

Nein, ich will es nicht dem Zufall überlassen. Selbstverständlich müssen wir den Widerstand organisieren. Wir werden eine Front der Demokraten bilden, um den zivilen Ungehorsam auf breiter Ebene zu organisieren und Schritt für Schritt zu verstärken.

Ist dieser Plan in Anbetracht der realen Machtverhältnisse nicht utopisch? Im Augenblick jedenfalls sitzen Ahmadinedschad und die Radikalislamisten fest im Sattel.

Das hat den Vorteil, dass der wahre Charakter des Gottesstaates für alle sichtbar wird. Das Regime zeigt jetzt das letzte Potenzial, das es zu bieten hat. Im Inland herrscht Chaos. Mit Populismus allein lässt sich ein Land nicht regieren. Die Regierung hat dem Volk soziale Gerechtigkeit versprochen. Herausgekommen ist eine massive politische Unterdrückung, ohne dass es dem Volk einen Deut besser geht. Wir sind Zeuge massiver Unruhen in den Provinzen. Und außenpolitisch gerät das Regime immer weiter in die Isolation. Heute ist die internationale Gemeinschaft gegen uns. All dies kann sehr gefährlich werden, aber auch die Chance zu einer politischen Umwandlung bieten.

Hat die Politik des Westens zu dieser Lage geführt?

Ich bin gegen die eindimensionale Betrachtung des Westens. Der Westen hat doch auch die Moderne hervorgebracht, die kritische Vernunft, aus der Demokratie und Menschenrechte hervorgegangen sind. Ich fühle mich dieser Kultur, diesen Errungenschaften zutiefst verbunden. Wir müssen den Westen, auch die USA, differenziert betrachten und die großen Kulturen von der Außenpolitik westlicher Staaten trennen.

Die Außenpolitik der USA setzt zur Demokratisierung auch auf Gewalt.

Wir müssen diese Politik scharf kritisieren. Für mich besteht zwischen Guantánamo und dem Teheraner Evin-Gefängnis kein Unterschied. Ich bin nicht gegen den Westen, aber gegen die Verletzung der Menschenrechte. Ebenso verurteile ich jede Art von Dämonisierung des Islams, die Gleichsetzung mit Terrorismus und Gewalt. Warum schaut man immer nur auf eine kleine Minderheit, die Terroristen? Warum wird die überwiegende Mehrheit der Muslime, die nach Frieden und Freiheit ruft, ignoriert. Das schafft Unfrieden, Feindschaft und Hass.

Soll der Westen sich in iranische Angelegenheiten einmischen?

Alle Länder müssen sich überall dort einmischen, wo Menschenrechte verletzt werden. Wenn ein Mann seine Frau schlägt, kann man dies nicht als seine Privatangelegenheit betrachten, genauso wenig wie man Unterdrückung, Folter und Hinrichtung als eine nationale Angelegenheit betrachten darf, in die sich niemand einmischen soll.

Wie weit darf die Einmischung gehen?

Was ich grundsätzlich ablehne, ist eine militärische Intervention, sind Sanktionen. Das Problem ist, dass es westlichen Regierungen nicht um Menschenrechte und Demokratie geht. Ausschlaggebend sind die ökonomischen Interessen. Deutschland zum Beispiel gehört zu den wichtigsten Handelspartnern Irans und hat sich oft bereit gezeigt, die Augen vor der Verletzung der Menschenrechte zu verschließen. Deswegen können westliche Regierungen nicht unsere Ansprechpartner sein. Unser Appell richtet sich an die Zivilgesellschaften.

Wie entwickelt ist die iranische Zivilgesellschaft? Wohin tendieren die Intellektuellen?

Es gibt im Iran eine sehr weit entwickelte Zivilgesellschaft und eine starke Schicht von Intellektuellen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind die sich darin einig, dass wir nur in einer Demokratie unsere Probleme lösen können. Unser Hauptproblem liegt darin, dass wir nicht organisiert sind, dass es keine Führung gibt, die eine allgemeine Bewegung ins Leben rufen könnte.

Sind Sie bereit, diese Führung zu übernehmen?

Ich kenne meine Grenzen. Ich bin für solche Aufgaben nicht geeignet. Außerdem kann man sich nicht selbst zum Führer einer Bewegung ernennen. Das müssen andere tun. Was ich trotzdem gerade versuche, ist, viele Menschen zusammenzuführen, die in der Bevölkerung großes Vertrauen genießen.

Wie gehen Sie konkret vor?

Ich versuche, die iranische Opposition durch konkrete Forderungen zu mobilisieren. Zum Beispiel haben wir das Regime jetzt aufgefordert, innerhalb der nächsten zehn Tagen drei politische Gefangene, den Gewerkschaftsvertreter Ossanlu, den Intellektuellen Dschahanbeglu und den Aktivisten der Studentenbewegung, Mussawi Choiniha, freizulassen. Sollte das Regime der Forderung nicht nachkommen, werden wir vom 15. bis 17. Juli weltweit in Hungerstreik treten. Ich selbst werde vor dem Gebäude der UNO in New York streiken.

Haben Sie vor, in den Iran zurückzukehren?

Selbstverständlich.

Sie riskieren, erneut ins Gefängnis gesteckt zu werden.

Wie ich sagte: Wir müssen solche Risiken auf uns nehmen, sonst kommen wir nicht weiter.