Was wollt ihr in Berlin?

AUS DORTMUND MIRIAM BUNJES, KLAUS JANSEN UND MARTIN TEIGELER

Die braunen Klinker des Hauses und die dunklen Fensterrahmen der Gaststätte signalisieren: Eckkneipe, vermutlich düster. Könnte auch „Herthas Eck“ heißen. Doch von wegen. „Limette“ prangt gelb auf rot über dem Eingang der Kneipe. Nebenan rattert die S-Bahn in Richtung Unna, vor der Haustür liegt ein roter Teppich. Fransig, aber ansonsten gut erhalten. Trotzdem erinnert er an Sperrmüll. Wenn er nicht so lang wäre: drei Kilometer. Von der Innenstadt zum Stadion. Solch ein Prachtexemplar deutscher Auslegeware findet kein Lumpensammler. Der Teppich ist ein Geschenk der übermotivierten Stadtverwaltung: Es ist der Laufsteg für alle Freunde, die zu Gast sind in Dortmund. Die „Limette“ könnte nicht günstiger liegen.

Auch drinnen: Stilmix. Die knallbunten Stühle sind mit Früchten bemalt, die Theke dafür eher rustikal. Das Stammpublikum: ein paar junge Leute, dazu 50-jährige Autohausbesitzer. In England hieße es: ein bisschen posh.

Noch vor einem Jahr hat der Wirt das Premiere-Abo für die Bundesligaspiele gekündigt. Zu teuer. Mittlerweile ist Fußball natürlich wieder alles. Auf dem Bürgersteig hat er einen Stand aufgebaut. Es ist laut. Jeden Abend. Sommersprossige, rothaarige Frauen in Brasilien-T-Shirts trinken Caipirinha aus Plastikbechern. Manchmal trommelt sich eine echte Samba-Truppe die Straße herunter. Wenn nicht, hilft „Samba de Janeiro“ von Bellini. Auf Repeat. Der Song war 1997 ein Hit. Hip ist er nicht mehr. Auch die Limette ist nicht hip. Wenn am späten Abend Right Said Fred und die Hermes House Band aus den Boxen auf die Straße dröhnen, brüllen Schweizer Fans ihre „Nati“ nach vorne. Bis drei Uhr in der Früh. Dortmund kann sich nicht verstellen. Dortmund ist die Ursuppe der WM.

Findige Geschäftsleute verkaufen die Luft des Westfalenstadions, luftdicht verpackt in Dosen. Der Mythos, verkörpert in heißer Luft. Noch nie hat Deutschland in Dortmund ein Spiel verloren. 14 Spiele, 13 Siege, ein Unentschieden. 1977 war das, ein 1:1 gegen Wales. Von ihrem „Wohnzimmer“ schwärmen die Nationalspieler. „Dortmund ist etwas anderes“, sagt Philip Lahm. „Die Menschen dort leben Fußball“, sagt Christoph Metzelder. Metzelders Clubkamerad David Odonkor verkörpert wie kaum ein anderer die Aufbruchstimmung in der Nationalelf. Der fußballernde Leichtathlet steht für Tempo.

Tempo und Dortmund? Die Bewohner des grünbürgerlichen Kreuzviertels im Südwesten der Stadt sind stolz darauf, dass Odonkor eine Weile in ihrem im Viertel gewohnt hat. Der Sportwagen vor der Tür soll ihm gehört haben, erzählen sie sich. Nur: Seine Freizeit verbrachte David Odonkor meist in Bünde – seinem Heimatdorf in Ostwestfalen.

Wer aus dem Hauptbahnhof tritt, sieht ein Foto mit 20.000 Dortmundern. Auf Leinwänden hängt die Südtribüne des Westfalenstadions – in Echtgröße und so scharf fotografiert, dass jeder jeden wiedererkennt. Im Tunnel davor dröhnen Fangesänge vom Band, 24 Stunden lang, von Beginn der WM bis zu ihrem Ende. Anwohnerbeschwerden? Fehlanzeige, am Dortmunder Bahnhof wohnt ja niemand.

Länger als 20 Sekunden dauert keiner der Soundschnipsel. Anders als auf der originalen Südtribüne, wo eng aneinander gedrängt und natürlich stehend das Fußballherz Borussia Dortmunds schlägt. Und ja, es gibt dort auch tatsächlich den „Vollblutwestfalen mit Dortmunder-Union-Bierbauch und der guten alten Schenkelbürste im Gesicht“, den Stern-Reporter Klaus Bellstedt bei seinem Besuch in Dortmund in Massen gesehen haben will und der ihn angeblich an jeder Ampelkreuzung zu Autorennen aufforderte.

Hundert Meter hinter dem Tribünenabbild hat ein grauhaariger Afro-Dortmunder einen Klappstuhl aufgestellt. Mit beiden Händen schlägt er auf eine bunt verzierte Trommel und ruft abwechselnd „Joppa“, „Finale“ und „Deutschland“. Vor ihm tanzt eine Gruppe brasilianischer Jugendlicher. Mädchen wie Jungen zucken mit der Hüfte und rufen auch „Joppa“ und machen dazu ein trillerndes Geräusch mit der Zunge. Vorbeikommende bleiben stehen, klatschen, wippen im Takt. Der Mann auf dem Klappstuhl reißt mit. Dortmund ist Selbstbespiegelung – und Multi-Kulti.

Gerd Kolbe ist der WM-Beauftragte der Stadt Dortmund. Eigentlich war der rührige Brillenträger Pressesprecher, Lokalhistoriker und Schachbuch-Autor, doch mit dem Turnier hat er seine Berufung gefunden. Täglich lädt Kolbe zur Pressekonferenz. Geredet wird über die Erfolge der Dortmunder Polizei, über die Hoffnungen der Dortmunder Gastronomen, über die Anstrengungen der Stadt. Die Bild-Zeitung gab Kolbe und seinem Team die Note eins. Gerd Kolbe ist jetzt einer der berühmtesten Stadtvertreter Deutschlands.

Als Dortmunder Journalistik-Studenten ein Magazin mit einem FIFA-kritischen Artikel auf dem zentralen Friedensplatz verteilen, wird ihnen auf Kolbes Geheiß ein Platzverweis erteilt. Dortmund will seine Gäste nicht brüskieren.

Auf dem Alten Markt zwischen Public-Viewing-Zone und zentralem Straßenbahnhaltepunkt spielt gerade eine karibische Steeldrum-Combo, auch umsonst und draußen. Daneben dröhnt Grönemeyers WM-Song aus einer christlich dekorierten Bretterbude. Alle tanzen, obwohl das nächste Spiel noch viele Stunden entfernt ist. Eine Schwedin erzählt der Bedienung, dass sie unbedingt Döner nach Hause bringen will. Ihr Rücken ist feuerrot. „Westpark“, sagt sie. Vier Tage hat sie dort mit ihren drei Freundinnen übernachtet.

Im Park am südlichen Ende der Innenstadt, im Kreuzviertel auf halben Weg ins Fußballstadion verbessern zwei alte Frauen ihre Rente mit Flaschensammeln. Es riecht nach Grillen, wie in jedem Dortmunder Sommer. Und wie jeden Sommer bleiben abends bergeweise Müll und bekiffte Studenten liegen. In diesem Sommer leben hier noch mehr junge Menschen als sonst, spielen Fußball, gucken Fußball im Café Erdmann. Wie die einheimischen Dortmunder, hier zu fast hundert Prozent ohne Jogginghose. Hornbrillen tragen und Asischale essen passt in Dortmund zusammen. Sich ändern für die WM? Kein Bedarf.

In dem kleinen Public-Viewing-Biergarten im Kreuzviertel gibt es Pils zu FIFA-Preisen: 3,50 Euro plus 1,50 Pfand Euro Pfand. Auf den Bänken unter den Bäumen sitzen am ersten Dortmunder WM-Spieltag die schwedischen Fans und schauen auf den Bildschirmen die Partie England gegen Paraguay. Die Schweden trinken langsam, unterhalten sich leise und essen Bratwurst. Sie warten auf ihre Vorrundenpartie gegen Trinidad und Tobago, die später am Tag angepfiffen wird – fünfzehn Gehminuten weiter im Westfalenstadion.

Mitten unter den blonden Fans sitzt ein großer Mann mit dunklen Haaren und dunkler Sonnenbrille. Es ist Lawrie Sanchez, der Nationaltrainer von Nordirland. Hat er sich verirrt? Den Shuttlebus zur VIP-Zone verpasst? Sanchez ist in England ein bekannter Ex-Fußballprofi. So etwas ähnliches wie der BVB-Pokalheld von 1989, Norbert Dickel, vielleicht. Lawrie Sanchez hat einmal den FC Liverpool besiegt – mit einem 1:0-Kopfballtor im Pokalfinale. Hier im Kreuzviertel bleibt Sanchez unerkannt. Wie viele der schwedischen Fans geht er während des England-Spiels los Richtung Westfalenstadion. Ob er Schweden beobachten will, einen nordirischen Gegner in der nächsten EM-Qualifikation? Sanchez brummt etwas, gibt ein Autogramm, und verlässt das Kreuzviertel – wohl für immer.

Mexikaner sind in Dortmund gewesen, Briten, Franzosen, obwohl ihre Mannschaften dort kein einziges Spiel ausgetragen haben und obwohl Dortmund in seiner Stadtgeschichte wohl nicht mehr als Touristenhochburg bekannt werden wird. 200.000 Menschen werden heute in der Stadt erwartet, wenn Deutschland auf Italien trifft. „Es wird ein Spiel sein, dass es in der Form in Deutschland noch nicht gegeben hat“, sagt Nationalspieler Christoph Metzelder.

Nach der Partie werden die Fans des Siegers ihre Mannschaft nach Berlin begleiten, in die Fernseh-Promi-Glitzer-Sponsoren Hauptstadt der WM. Die Dortmunder werden ein letztes Mal die Biergärten und Public-Viewing-Anlagen füllen. Danach wird der rote Teppich eingerollt. Auf den Sperrmüll kommt er allerdings nicht. Das fransige Erinnerungsstück wird versteigert.