Wo das Herz zu Hause ist

Nebenstelle (9): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Constanze Wilken zog es stets ans Meer. Auf der Halbinsel Eiderstedt speist sie ihr Schreiben mit salziger Luft und dem Schrei des Fasans. Ohne Internet und die Bibliotheken der Großstadt ginge es aber auch nicht

Wie könnte ich vom antiquierten Charme St. Peter-Ordings schwärmen, ohne die Hektik, die rush-hour zu kennen?

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Ich habe an den unterschiedlichsten Orten gelebt, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: Sie lagen am Meer. Bei der Suche nach meinem ersten Studienplatz hat die Nähe der Universität zum Meer keine Rolle gespielt, aber irgendwie landete ich in Kiel, direkt an der Ostsee. Während des Studiums verschlug es mich für einige Monate nach Florida, an den Golf von Mexiko. Die Zeit bis zum Beginn meiner Promotion in England – einer Insel, aber so groß, dass ich auch irgendwo in der Mitte hätte landen können – überbrückte ich mit verschiedenen Jobs in Städten, die mich nicht begeisterten. Und dann kam ich nach Aberystwyth, in dieses wildromantische kleine Küstenstädtchen in Wales, direkt an der irischen See. Dort habe ich einen Teil meines Herzens verloren. Ein großer Teil meines Herzens aber gehört dem Nordseebad St. Peter-Ording, der Rest den wunderbaren Orten dieser Welt, die ich gesehen habe und noch sehen werde.

Was macht einen Ort, den Platz, an den man sich zurückzieht, besonders? Für mich sind es in erster Linie die Menschen, die mir wichtig sind, meine Familie. Irgendwie hat es sich ergeben, dass meine Wurzeln auf einer Halbinsel an der Nordseeküste liegen. Für das Schreiben sind die Weite des Strandes, der salzige Geruch des Meeres und die herben Düfte der Salzwiesen wie kostbares Ambra, Nahrung und Inspiration zugleich.

Aber allein durch das Herumspazieren am Strand entstehen natürlich keine Bücher. In meinen Geschichten spielen historische Begebenheiten und Kunstwerke eine Rolle. Das mag an meiner Vorbelastung als Kunsthistorikerin liegen, und sicher auch daran, dass ich davon überzeugt bin, dass fast jedes Gemälde oder jede Antiquität eine eigene Geschichte verbirgt. Die Suche danach hat mich an die sonderbarsten Orte geführt, mich Gespräche mit Menschen führen lassen, die mir Einblicke in ihre Welten gewähren – kostbare Momente, aus denen in der Einsamkeit meines Arbeitszimmers Ideen für neue Romane wachsen.

Es ist herrlich, während des Schreibens aus dem Fenster zu sehen und auf Dünen und Kiefernwald zu schauen. Abends treiben sich Rehe im Garten herum und morgens schreit manchmal ein Fasan so laut, dass ich erschrocken aufwache und mich in der Fagianeria einer toskanischen Villa der Renaissance wähne, denn zurzeit schreibe ich an einem historischen Roman zu dieser Epoche. Aber an Informationen, zum Beispiel die Struktur eines toskanischen Renaissancegartens, komme ich ohne eine gut bestückte Bibliothek oder das Internet nicht.

Ich sehe keinen Nachteil darin, gelegentlich nach Hamburg, Kiel oder Berlin fahren zu müssen. Meine Ausflüge in unsere Metropolen sind eine Art Feldforschung. Wenn ich gefragt werde, wo ich lebe, ernte ich entweder ein freundliches „Oh, wie schön!“ oder ein mitleidiges „Ach, wie kann man es in der Provinz auf die Dauer aushalten?“. Das Wort „Provinz“ hat einen negativen Beiklang – damit verbindet der unbedarfte Hörer oder Leser einen öden Landstrich mit trostlosen Dörfern und noch trostloseren Bewohnern, den Einheimischen. Aber wenn ich es so recht bedenke, dann finde ich in jeder Großstadt prozentual gesehen genauso viele engstirnige Mitmenschen.

Kommt die Erneuerung von den Rändern? Sicher, genauso wie aus der Mitte: Eines geht ohne das andere nicht, denn was wäre die Metropole ohne die Provinz? Es gäbe sie einfach nicht. Wie könnte ich vom leicht antiquierten Charme des Nordseebades schwärmen, ohne die Hektik, die Rushhour, die überfüllte Londoner „tube“, die hippe Clubszene Hamburgs, die wundervolle Berliner Museumsinsel oder die verführerische Einkaufsmetropole Mailand zu kennen?

Das Geheimnis einer Liebe liegt im Gegensätzlichen, im Gemeinsamen. Etwa so definiere ich mein Verhältnis zu St. Peter-Ording, einem Ort, der in ständigem Wandel begriffen ist, und trotzdem finden sich immer noch Ecken, in denen ich das Kurbad der Jahrhundertwende entdecke. Ich sehe dann ein kleines, leicht heruntergekommenes Häuschen mit Veranda und geschnitzten Giebelfronten an der Strandüberfahrt Ording vor mir, eine reetgedeckte Kate am Deich oder den alten Leuchtturm in Böhl. Zu anderen Zeiten spaziere ich gern durch das lebhafte Zentrum. Im Sommer überfallen Touristen den Ort, aber wenn ich am Strand meine Ruhe will, laufe ich einfach zweihundert Meter weiter nach links. Vielleicht liebe ich St. Peter-Ording, weil es zeitweise zu Großstadttrubel neigt und mich nach Ende der Saison wieder monatelang allein lässt mit meinen Gedanken.

Für gute Texte braucht es weder Provinz noch Metropole, sondern den einen Ort, an dem das Herz zu Hause ist. Jedenfalls ist das bei mir so und zurzeit ist das ein kleines Nordseebad auf der Halbinsel Eiderstedt, wo die Schafe den Deich rasieren und der Fasan den Morgen ankündigt. CONSTANZE WILKEN