Wellness für den Geist

Auf den Halligen leben nur wenige Menschen. Ihren Erwerb beziehen sie heute hauptsächlich von Tourismus, Küstenschutz und Landwirtschaft. Eine philosophische Reise auf die Nordsee-Hallig Langeneß zum Thema Zeit

Von EDITH KRESTA

„Was aber ist die Zeit?,“ fragte sich schon der Heilige Augustinus ca. 300 nach Christus, um bei der Erklärung dieses Phänomens zu kapitulieren. Auch wir hadern damit. Und haben uns drei Tage auf die Nordsee Hallig Langeneß zurückgezogen, um über Zeit zu sinnieren. Umspült von den Gezeiten, geprägt von Ebbe und Flut, ist diese lang gestreckte, dem Meer abgetrotzte Landmasse der ideale Ort dafür. „Flutende Zeit“, so das Thema unserer Reise. Einer Reise der Wochenzeitung DIE ZEIT, was sich natürlich wunderbar zum Thema fügt.

Die Hallig Langeneß liegt zwar mitten in den Gezeiten und doch außerhalb der gewöhnlichen Zeit. Zumindest scheint es uns so. Im Winter und im Herbst wird sie bei Sturm regelmäßig überspült. Jetzt im Sommer wachsen bunte Blumen auf den Salzwiesen. Kühe liegen in den baum- und strauchlosen Grasflächen. Die 16 Warften, die künstlich aufgeworfenen Hügel, auf denen die reetgedeckten Häuser stehen, wirken wie Maulwurfshügel in der flachen Landschaft, die bei unbedecktem Himmel immer wie frisch gewaschen aussieht. 108 Einwohner, eine schmale Straße ohne Verkehrsschilder, dafür der Hinweis auf Ausweichbuchten, ein Kiosk am einen Ende und ein kleiner Laden am anderen Ende der Hallig – hier wird der Rhythmus langsamer, die Gedanken stetiger. Entschleunigung. Es gibt keinen Verkehrslärm, keinen Drogeriemarkt, keine schrille Reklame. Keinen Arzt, keine Polizisten, keinen Bankautomaten. Kein Hund bellt, kein Hahn kräht, nur die Lachmöwen scheinen die Besucher zu bemerken und fliegen über sie hinweg mit ihrem distanzlosen Kreischen, das auch das Lachen der Inselhexe sein könnte.

Stress, ade. Hier wird Zeit spürbarer, was unser Thema idyllisch untermalt. Was ist eigentlich eine philosophische Zeit? Eine andere als die physikalische? Wie verhalten sich die objektive Zeit der Physik und die subjektiv erlebte Zeit zueinander? Warum kommen einem als Kind die Tage ewig vor, je älter man wird, desto weniger Zeit scheint man zu haben? Was bedeutet unsere Endlichkeit für die Wahrnehmung der Zeit?

Wir sind 12 Personen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen. Die Rentnerin aus München, die sich hier Anregung holt; die Philosophielehrerin, die ihrem Metier frönt; der pensionierte Hals-Nasen- Ohren-Arzt, der sich an allgemeiner Bildung labt; der Ingenieur, der sich für das Zeitphänomen interessiert; der Professor der Neurologie, der mehr über Bewusstseinsbildung aus philosophischer und literarischer Sicht erfahren will, und der bei allzu großem Abschweifen gerne beweiskräftig und keinen Widerspruch zulassend die Erkenntnis der Hirnforschung präsentiert; die Rechtsanwaltsgehilfin, die sich mit Wissenschaft beschäftigt; die Technikerin, die auch Lebenshilfe erwartet.

Eine bunte Mischung, mit der der freischaffende Philosoph Peter Vollbrecht durch die unterschiedlichsten philosophischen Modelle streift. Ausflüge in die Zeit der Antike, zu den frühen Naturwissenschaften, zu Galilei und Newton, zu Kant, Bergson, Heidegger, um dann in der Physik, der Thermodynamik und bei Einstein zu landen.

Vollbrecht hat verdauliche Vorträge ausgearbeitet. Er ist ein guter Moderator, geübt im Vermitteln. Er versteht sich selbst als „Übersetzer philosophischer Texte“. Das macht er seit Jahren in philosophischen Cafés im süddeutschen Raum. Viele seiner Gäste sind Teilnehmer der Cafés und kommen immer wieder. Auch zu seinen Reisen, auch wenn vieles in den Windungen des philosophischen Konstrukts verborgen bleibt. Natürlich redet man aneinander vorbei, nagt an unterschiedlichen Problemen, hat unterschiedliche Fragen, unterschiedliche Antworten:

– „Ich glaube nicht, dass es uns gelingt, das Wesen der Zeit zu ergründen, weil wir nicht ‚von außen‘ auf die Zeit schauen können.“

– „Man mag gerne die diversen Relativitätstheorien heranziehen, aber damit lassen sich doch auch nur Zeiten vergleichen, oder?“

– „Interessant finde ich die Frage, ob wir es mitbekämen, wenn sich der ominöse Zeitpfeil umkehrt. Vermutlich nicht.“

– „Was ist philosophische Zeit? Was ist gefühlte Zeit? Stehen wir auf der Zeit?“

– „Wenn sich der Zeitpfeil umkehren würde, würden wir uns an die Zukunft erinnern?“

– „Mal zurück zu Augustinus, abzüglich Gott. Gäbe es nur Zeit, wäre Zeit sinnlos. Zeit manifestiert sich durch Bewegung bzw. Veränderung. Ergo benötigt Zeit den Raum. Zeit kann es also gar nicht ‚vor‘ dem Raum gegeben haben.“

– „Es geht um die Frage, wieso wir einen Fluss der Zeit (von gestern nach morgen) erfahren, obwohl den die Relativitätstheorie mir ihrer vierdimensionalen Raumzeit doch überhaupt nicht vorsieht.“

Ein bewegter Geist regt den Körper an und umgekehrt. Wir betreiben Wellness für den Geist, Fitness fürs Hirn und zwischendurch auch für den Körper. Eine Wattwanderung bietet sich dafür genauso an wie die Fahrt mit dem Rad über die Hallig. Von einem zum anderen Ende sind es etwa 14 Kilometer hin und 14 km zurück. Bei ebener Strecke bleibt da genügend Zeit, um weiter zu philosophieren in der entschleunigten Zeitblase.

Was den Sinn eines solchen Orts- und Luftwechsels für die subjektive Zeit ausmacht, hat Thomas Mann im „Zauberberg“ beschrieben: „Große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen … Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels …“ Reisen als „Zeitgewinn gegen die Lebensschwäche“ – das leuchtet unmittelbar ein. Das ist eine reine Gefühlssache.