„Regelverletzende Proteste sind neu“

Der Berliner Soziologe und Bewegungsforscher Dieter Rucht über die Protestaktionen gegen Studiengebühren: Studenten dürften sich nicht nur auf Universitäres beschränken. Eine „Allianz der Benachteiligten“ aber sei schwierig zu bilden

INTERVIEW HEIDE PLATEN

taz: Herr Rucht, haben die Studentenproteste mit Schienenbesetzungen und Autobahnblockaden eine neue Qualität erreicht?

Dieter Rucht: In gewisser Weise: ja. In den letzten zwölf bis zehn Jahren beschränkten sich die Proteste der Studierenden im Wesentlichen auf das konventionelle Aktionsrepertoire. Es wurden Plakate geklebt und Flugblätter verteilt, mal ein Büro der PDS besetzt. Diese gezielt Regeln verletzenden Proteste sind insofern neu, wenn man von der Studentenbewegung der Sechzigerjahre absieht.

Wie erklären Sie sich diese Radikalisierung?

Das hängt mit dem Misserfolg konventioneller Formen zusammen. Wenn keine Massen zusammenkommen, bleiben nur wenige Alternativen. Man kann sich Verbündete suchen, Prominente als Unterstützer gewinnen, aber das hat bisher nicht funktioniert. Damit liegt eine Steigerung der Intensität des Protestes nahe.

Der Frankfurter Asta hat vor der Demonstration ausdrücklich betont, dass es ihm nicht so sehr auf die Menschenmassen auf der Straße ankomme, sondern mehr auf die längerfristige Vernetzung mit Arbeitslosen, Emigranten und anderen Benachteiligten.

Ich habe schon vor einigen Wochen gemeint, dass die Studierenden mit ihrem engen Bezugsrahmen auf rein universitäre Angelegenheiten nicht weiterkommen werden. Denkbar wäre eine Allianz der Benachteiligten, aber das Beschwören solcher Bündnisses halte ich derzeit für blanke Rhetorik. Die Gemeinsamkeiten sind nur formal und lassen sich unter den gegebenen Umständen nicht herstellen.

Das ist sehr pessimistisch.

Ja. Und dafür bin ich auch schon kritisiert worden. Aber es ist nicht meine Aufgabe, Mut zu machen, sondern Bewegungen zu analysieren.

Die Proteste benutzen die Symbolik der Französischen Revolution und nehmen als Vorbild auch die Jugendunruhen im vergangenen Herbst in Frankreich in Anspruch. Macht das Sinn?

Nicht wirklich. Das ist wiederum ein Zeichen der Schwäche, der Notwendigkeit des Sich-anlehnen-Müssens. In Frankreich herrschen ganz andere Bedingungen.

Was sollen die Studierenden heute also tun?

Ich bin sehr skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten des Protestes gegen die Studiengebühren. Das verhindert schon der Föderalismus, der scheibchenweise in den einzelnen Bundesländern vorgeht. Aber auch die Studierenden selber haben ziemlich unterschiedliche Interessen. Ein Teil hat reiche Eltern, die Gebühren locker bezahlen können, ein anderer will schnell das Examen machen. Manche sind auch nicht prinzipiell gegen Studiengebühren, zumal auf Darlehensbasis. Zudem gibt es im Moment nichts, was über die Universitäten hinausgehend vereinheitlichend wirken könnte. Der gemeinsame Nenner Sozialabbau trägt nicht, zumal aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit die Studierenden nicht gerade zu den Unterprivilegierten gehören.