Freud’sche DJs an der Schädelnaht

Das Babylon Mitte zeigt im Rahmen von „Sonambiente 06“ experimentelle Filme über Klangkunst zwischen Stockhausen und japanischem Noise. Mal knarzen Küstenstreifen elektronisch, mal kann Industrial Leben retten

Im Schlund der Sängerin flimmert es heftig. Elektronenteilchen scheinen sich zu beschleunigen, während die Stimme in immer höhere Tonbereiche vordringt. Kurz vor dem Umschlagen in ekstatisches Kreischen zieht sich die Kamera zurück aus dem Rachen: Der Resonanzraum gehört Maria Callas. Für ihren 2004 entstandenen Kurzfilm „Diva“ nutzt Katarina Matiasek das Found-Footage-Material eines Fernsehauftritts, dessen Tonspur von Scanner nachträglich mit dem Hallgerät verfremdet wurde. Jetzt kommt die Montage einer Entladung gleich – als wäre der Klang vor dem Zoom ein Gefangener im Körper der Callas gewesen.

Matiasek und Scanner sind ein eingespieltes Team, wenn es um visuelle Experimente mit Klangkunst geht. Deshalb werden gleich vier von ihren Gemeinschaftsarbeiten innerhalb einer Filmreihe im Babylon Mitte gezeigt, die bis zum nächsten Wochenende das „Sonambiente 06“-Festival begleitet. Für „Insel-Play-Back“ (2005) hat das österreichisch-britische Duo den Küstenstreifen einer Inselgruppe vom Hubschrauber aus gefilmt und mit elektronischem Knarzen unterlegt, als ob sich die Sounds aus der Landschaft herausschälen würden. In „Ur-Geräusch“ aus dem gleichen Jahr wird die Engführung noch weiter vorangetrieben: Dort fährt die Kamera unentwegt über Bücherrücken, während im Off eine Klangforschungsfantasie von Rilke nacherzählt wird, der als Freud’scher DJ die Schädelnaht eines Totenkopfes mit einer Grammofonnadel abtasten wollte wie eine Schallplatte.

Tatsächlich treffen in den für „Sonambiente 06“ ausgewählten Filmen immer wieder Hirnströme und Frequenzkurven aufeinander. Wie man in Peter Moores „Doubletakes“ (1964–94) sehen kann, wollte etwa Karlheinz Stockhausen Musik komponieren, die nicht bloß vage Empfindungen auslöst, sondern akustische Reize mathematisch genau verortbar macht. Und schon bei Hans Richters in den Vierzigerjahren gedrehtem Episodenfilm „Dreams that money can buy“ fielen seltsame Bild- und Soundschleifen zusammen, wenn sich Marcel Duchamps Rotoreliefs zur Musik drehten und illusionistisch wabernde Effekte vor dem Auge des Betrachters erzeugten.

Das ist viel Spielerei, mit Jump-Cuts und Loops, Doppelbelichtungen und Field Recordings, Close-ups und Samples. Doch neben den formalen Überschneidungen von Bild und Ton gibt es auch Filme, in denen der Klang nicht bloß ästhetischen Eigensinn besitzt, sondern auch eine Botschaft. Zum Beispiel in Shinji Aoyamas Endzeit-Science-Fiction „Eli, Eli, Lema Sabachthani“. Im Jahr 2015 hat sich ein Virus über ganz Japan ausgebreitet, das die Menschen in den Selbstmord treibt. Die Einzigen, die nicht an dem „Lemming Syndrom“ leiden, sind Anhänger einer kruden Noise-Band, weil der Lärm aus den meterhohen Verstärkertürmen offenbar Widerstandskräfte weckt. Also versucht ein reicher Großvater, seine einzige Enkeltochter zu retten, indem er sie zur Post-Punk-Industrial-Therapie schickt.

Aoyamas in ausgebleichten Farben fotografierter Film ist eine Hommage an die exzessive Fankultur der Japaner. Nicht aus Liebe zur Obskurität, sondern wegen ihres gesellschaftlichen Unangepasstseins. Gegen eine von Arbeit, Freizeit und Kontrolle formatierte Welt setzt Aoyama auf eine Musik, die im einen Moment aus nervenzehrendem Feedback besteht und im nächsten schon wieder still mit dem Windspiel klimpert. Wer den Extremen zuhört, hat mehr vom Leben. HARALD FRICKE

Bis 15. 7., tgl. 20 und 22 Uhr, im Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30 (www.sonambiente.net)