Bohneneintopf an Bord

Es muss nicht immer Hubschrauber sein. Auch aus der Bahn lässt sich ein Blick auf Deutschland werfen: Ein Reporter vier Wochen lang zwischen grölendem Inferno und nationaler Entspannung

AUS DEUTSCHLAND MARKUS VÖLKER

Auch Spektakel müssen enden. Auch dieses. Für WM-Reporter, die am Ball waren, ist die Weltmeisterschaft eine große, lange Reise gewesen: eine Deutschland-Tour de Force. Ich bin tausende Kilometer mit der Bahn gefahren, kostenlos in der ersten Klasse, weil Mehdorn die WM gesponsert hat. Es ging gleich mehrmals über die „fränkische Rampe“, ein nahezu unüberwindliches Hindernis für Mehdorns Flotte, in diverse Bordrestaurants, in denen ich sehr lange auf brasilianische Bohneneintöpfe oder Geschnetzeltes warten musste. Das „Es kommt gleich“ der Kellner ist zum geflügelten Wort unter Kollegen geworden. Die Züge waren fast immer verspätet, aber das war ein Trick der Bahn, damit Deutschland nicht als tugendversessenes Land erscheint. Pünktlichkeit, Ordnung und Arbeitseifer mussten kaschiert werden – das war ein Gebot der Freundlichkeitskampagneros. Deutschland war in diesen Tagen schwer bemüht, nicht Deutschland zu sein, sondern so patriotisch wie Amerika, so mediterran wie Italien und so liberal wie Schweden. Deutschland war nicht wiederzuerkennen, dieses kurzzeitige Konglomerat aus vorzüglichen Eigenschaften. Auch das ein Trick? Haben sich die Einwohner nur verstellt? Was war tatsächlich los?

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Nach einem heißen Spieltag steige ich in Leipzig, der mit Abstand sympathischsten WM-Stadt, in den ICE. Die Hitze hat mich fertig gemacht. Das T-Shirt klebt an der Haut. Ziemlich abgespannt besteige ich den Zug, setze mich. Mein Gegenüber, ein junger Mann im Anzug und mit iPod-Stöpseln im Ohr, mustert mich, nimmt die Stöpsel heraus und fragt: „Sind Sie sicher, dass Sie erster Klasse fahren wollen!?“ Deutschland ist ein schönes Land, nur seine Bewohner möchte man manchmal austauschen, womit ich schon bei der Spezies „Der freundliche deutsche Fan“ wäre. Er macht es einem schwer, ihn zu mögen. Ich habe es versucht, ehrlich. Aber wenn Spiele der deutschen Elf sind, dann verwandelt er München, Dortmund oder Berlin in ein grölendes Inferno, ein Purgatorium, aus dem kein Entrinnen ist. Wohin ich auch fliehen will, überall ist er schon, der freundliche deutsche Fan, schwenkt mir seine Fahne ins Gesicht, rülpst mich von der Seite an oder stimmt ein fröhlich Liedchen auf dem Bahnsteig an, gelegentlich auch dies: „Deutschland, Deutschland, über …“ Der taz-Kollege Bernd Müllender sah in Dortmund einen VIP, der die deutsche Nationalhymne mit dem Hitlergruß flankierte.

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Für den deutschen Fan waren diese Wochen eine Wohltat: Endlich durfte er grölen, krakeelen und lärmen, kurz: die öffentliche Ordnung auf den Kopf stellen. Und alle Welt fand das großartig. Wer allerdings zu den sensibleren Gemütern zählt, hatte keine Chance gegen die flächendeckende Verlärmung. Er wurde von diesem Orkan mitgerissen. Ein Kollege hat sich in der Münchner U-Bahn einmal die Ohren zugehalten, weil er die verschwitzt-lauten Zumutungen des freundlichen deutschen Fans nicht mehr ausgehalten hat. Er wurde scheel angeguckt. Einige zeigten mit dem Finger auf ihn, ihre Miene verfinsterte sich. Prügel gab es in dieser Szene keine, dafür hätte es uns spätnachts in München fast einmal erwischt, am Taxistand. Wir steuern auf ein Taxi zu, das unseres zu sein scheint. Doch der freundliche deutsche Fan belehrt uns nachdrücklich, dass dem nicht so ist. Er kapert unser Taxi, stößt mich zur Seite. Und auf den Ruf des Kollegen von der Neuen Zürcher Zeitung: „Spätestens im Halbfinale ist für euch eh Schluss!“, stoppt das Taxi abrupt, woraufhin wir die Beine in die Hand nehmen. Doch davon einmal abgesehen, ist die Spezies Deutschlandfan ein umgänglicher, friedlicher Zeitgenosse, mitunter liegt er einfach nur in der Münchner U 2 herum, pullert sich einen fußballgroßen Fleck in die Jeans und lässt das verdaute Bier durch den Waggon mäandern. Auf die Frage der Polizei, wo er hingehöre, sagt er an der Station Josephsplatz: „Huuadipofing“, oder so ähnlich.

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Im ICE lassen sich tolle Bekanntschaften machen. Zum Beispiel mit Jürgen Trittin und Claudia Roth, den beiden Grünen, die zu einem Spiel der Schwarzrotgoldenen unterwegs sind. Trittin – wir befinden uns eher am Anfang des Turniers – outet sich als Klinsmann-Skeptiker. Ihn erinnere dessen Gehabe an den esoterischen Schmu eines Waldorfpädagogen, sagt der ehemalige Umweltminister. Roth will es nicht so eng sehen. Später treffe ich, als ich wieder einmal im Bordrestaurant auf die Bedienung warte, auf die Brüder Sapina, Milan und Ante aus dem Café King. Als sie mich sehen, machen sie kehrt. Wir kennen uns noch vom Prozess vor ein paar Monaten im Berliner Landgericht, in dem der Fußballwettskandal verhandelt wurde. Beide fahren zum Halbfinale Deutschland – Italien und tragen jeweils ein blaues Trikot mit der weißen Aufschrift „Italia“. Das sieht nach einem sicheren Tipp aus. Ich überlege kurz, da ich auf Insider getroffen bin, meinen Computer hochzufahren und auf Italien zu wetten, lasse es dann aber, weil ich mit Fußballwetten kein Glück habe. Ein Fehler, wie sich herausstellen wird. Italien gewinnt in der Verlängerung 2:0.

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Im Zug ergibt sich auch ein Interview mit den Sportfreunden Stiller. Ihr Song ist überall zu hören. Der Bassist der Truppe, Rüdiger Linhof, sagt, ich solle nicht so kritisch sein und auch mal mitgrölen, das wirke befreiend. Mit Klinsmann gehe es in Deutschland vorwärts, glaubt Linhof, weil der Bundestrainer den Deutschen den „Negativismus“ ausgetrieben habe. „Er hat auf die alten Säcke im DFB geschissen und seinen Plan durchgezogen, Respekt“, sagt Linhof. Gestern haben die Sportfreunde Stiller auf dem Empfang der deutschen Mannschaft am Brandenburger Tor singen dürfen. Sie haben sogar Herbert Grönemeyer ausgestochen. Die Sportfreunde sind die eigentlichen Gewinner dieser WM. Als noch nichts zu ahnen war von WM-Euphorie und Autokorsos und den Fähnchen, da haben sie Deutschland schon zum Weltmeister gemacht, die Mannschaft „mit der Leidenschaft im Bein“. „Das war wie bei Klinsmann“, sagt Peter S. Brugger, der Sportfreund an der Gitarre, „wir haben an etwas geglaubt, was unmöglich erscheint.“ Es sollte unmöglich bleiben. Die DFB-Elf ist nur Dritter geworden – ein verdienter Platz.

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Von Fitness ist oft die Rede gewesen und dem Spezialtraining der Deutschen. Aber keiner hat den Hämatokritwert der Reporter gemessen. Ein Versäumnis, denn sie mussten sich unmenschlichen Prüfungen unterziehen. Das Nonplusultra der Berichterstattung, das L’Alpe d’Huez unter den Belastungstests für die Journaille, ist die so genannte Mixed Zone, in der sich Fußballprofis durch einen Parcours schlängeln und der lauernden Meute ein paar Sätze spenden – wenn sie in Laune sind. Diese Mixed Zones betrat ich immer mit gemischten Gefühlen, vor allem den Pferch in Dortmund. Dort herrschten regelmäßig Temperaturen von mehr als 45 Grad und eine Luftfeuchtigkeit von etwa 90 Prozent. Rasende Reporter, die sich in der ersten Reihe des Pulks befanden, sahen nach getaner O-Ton-Jagd aus, als wären sie in einem Entmüdungsbecken entstiegen – schweißnass bis auf die Haut. Auch die Pressekonferenzen des Deutschen Fußball-Bundes verlangten einem viel ab. So viel Redundanz in den Aussagen war selten, so viel Abhängigkeit vom Verband leider auch. Aber zwei Dutzend Kollegen haben es am Ende doch noch geschafft, der Eintönigkeit zu entrinnen. Bei der allerletzten Konferenz im Berliner Messezentrum ICC huldigten sie dem DFB-Pressechef Harald Stenger, indem sie sich weiße Leibchen überstreiften, die das Konterfei des robusten Hessen trugen. Man bekam eine Ahnung davon, dass die Presseabteilung des DFB viel größer ist als angenommen.

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In vier Jahren wird in Südafrika wieder WM-Fußball gespielt. So viel ist sicher: Es wird wieder heiß, laut und anstrengend werden. Auf den Mehdorn-Express werden wir verzichten müssen. Mal sehen, wie’s mit dem Mbeki-Shuttle funktioniert.