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UNTERSAGTER NEOLOGISMUSBlitzeis und mehr

Nur aus Rücksicht gab ich meinem Bedürfnis nicht nach

Der Januar neigte sich dem Ende zu, als Berlin von gefährlichem Blitzeis heimgesucht wurde. Es war so arg, dass die Feuerwehr den Ausnahmezustand ausrief und die Polizei der Bevölkerung riet, zu Hause zu bleiben. Weil das nicht jedem möglich war, schlitterten die Menschen über Straßen, Plätze und Gehwege und landeten mit Platzwunden, Brüchen, Verstauchungen in der Notaufnahme.

Als ich mich am späten Nachmittag, wie von den Ordnungshütern empfohlen, zu Hause aufhielt, kam die nächste Naturgewalt: Permafrost. Der herrschte in der Wohnung meiner Nachbarn. Ich sollte den 11-jährigen Nachbarsjungen in Geografie abfragen, es ging um die Charakteristika von Tundra und Steppe. Er reichte mir seine Unterlagen und gab die dort notierten Fakten wieder: wenig Vegetation, Flechten, geringer Sonneneinfallwinkel, Permafrost.

Bei diesem Wort schauten wir uns kurz an und mussten sofort lachen. Wir dachten das Gleiche. „Spermafrost!“, riefen wir aus einer Kehle und amüsierten uns wie Bolle. Nur seine Mutter fand das überhaupt nicht lustig. Sie arbeitet in der Prävention von sexuellem Missbrauch und bat uns, dieses Wort nicht zu verwenden. Zähneknirschend willigte ich ein. Auf dieses Glatteis wollte ich mich nicht begeben.

Zum Schluss machten wir noch ein Schreibspiel, das ich kürzlich dem Nachbarsjungen gezeigt und an dem er Gefallen gefunden hatte. Jeder bekommt ein Blatt Papier und einen Stift, notiert einige Sätze und faltet das Papier dann so, dass der Nächste nur das letzte Wort lesen kann. Es kribbelte mir in den Fingern, das Wort Spermafrost unterzubringen. Nur aus Rücksicht auf die Nachbarin gab ich diesem Bedürfnis nicht nach. Es entstanden trotzdem absurd-lustige Geschichten. Die beste Geschichte war die, in der die Mutter das Wort verwendete, das sie mir und ihrem Sohn verboten hatte.

BARBARA BOLLWAHN

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