Die Mädchen von Jezevac

FRIEDEN Bis heute gibt es Flüchtlingslager in Bosnien. Eines davon ist Jezevac. Die, die den Krieg überlebten, fanden dort Sicherheit. Für die jungen Mädchen, die nachgeborenen, ist Jezevac jedoch wieder ein unsicherer Ort

VON CORNELIA SUHAN
(FOTOS) UND MECHTHILD MÜSER (TEXT)

Niemand kann sich den Ort seiner Geburt aussuchen. Alma und Erma nicht, auch nicht Jasmina, Amela, Mirsada. Sie kamen in Jezevac zur Welt. Ein Flüchtlingslager in der Nähe von Tuzla in Bosnien ist es, eine Ansammlung kleiner Häuser, nach dem Krieg schnell hingebaut auf die ebene Fläche zwischen dem Fluss, der Oskova heißt, und der Straße, die zur Kohlenabraumhalde führt. 35 Quadratmeter für je eine Familie. Vor der verfallenen Grundschule spielen ein paar Jungs Fußball mit Lumpenbällen, aus denen das Innere quillt. Die fliegen nicht weit.

Seit über 18 Jahren ist der Krieg in Bosnien zu Ende, doch die Lager gibt es noch immer. In Jezevac leben die Übriggebliebenen, Traumatisierten, sie kommen meist aus der Gegend von Srebrenica, ihre Väter, Männer, Brüder sind umgekommen in den Massakern. Nur zwei Stunden ist die alte Heimat entfernt und dennoch unerreichbar. Heute ist dort die Republika Srpska, Serbengebiet. Muslime unerwünscht.

Die Mädchen im Lager kennen kaum etwas anderes als diesen Ort. „Welcome to the City of Jezevac“, ruft eine 16-Jährige übermütig. Sie sind so frisch in ihrer Pubertät, sie kichern, machen sich hübsch, prügeln sich um die besten T-Shirts aus Altkleidersammlungen, laufen auch bei Kälte in dünnen Schuhen herum. Sie ertragen ihre verzweifelten Mütter oder gewalttätigen Väter, denn sie wissen um die schrecklichen Erlebnisse ihrer Eltern und um die Toten in der Familie. Sie machen den Haushalt, wenn ihre Mütter dazu nicht in der Lage sind, und klettern auch auf die Abraumhalde, um brauchbare Kohlestücke aus dem Schlamm- und Steingemisch zu fischen. Die Winter sind lang und kalt. Wenn sie genug Kohle beisammenhaben, um sie an Zwischenhändler zu verkaufen, besorgen sie sich vom Geld Hefte und Stifte, auch mal eine Jeans vom Markt in der nahen Kleinstadt Banovici.

Der Bus bringt die Größeren morgens dorthin zur Schule und nachmittags zurück. Wenn die Eltern die Busfahrkarte bezahlen, reicht das Geld nicht mehr für Schulbücher, irgendwie kommen die Mädchen auch ohne zurecht. Sie ertragen viel, selbst die verlassene Stichstraße zum Lager, die am Bergbaugebiet entlang geht. Hier fährt kein Bus, selten ein Pkw, nur ab und zu ein Kohle-Lkw. Am Tag reicht die Sicht nur bis zur nächsten Kurve, nachts nicht einmal das. Den Mädchen ist der Weg ein Gräuel, denn immer wieder sind da auch Männer, die ihnen auflauern. Wenn möglich, gehen die Mädchen die Wege gemeinsam. Sie müssen zusammenhalten. Nie kommen Schulfreundinnen nach Jezevac zu Besuch.

Manchmal aber tauchen andere Besucher im Lager auf, Männer mit vollen Taschen, auch Deutsche, sie umgarnen die Mädchen und ihre Mütter, breiten Lebensmittel auf den Tischen aus, halten Ausschau nach den Hübschen, den Großäugigen. Sie kaufen ihnen kurze Kleider, Schmuck. Die Mädchen wollen so dringend ein anderes Leben. Verdreht ein Mann ihnen den Kopf oder verspricht einen guten Job, sehen sie eine rosige Zukunft. Ausländische Männer, das wissen die Mädchen noch von den NGOs, die im Krieg und danach kamen, kommen als Helfer. Die Mütter denken das auch.

Ein paar Schutzengel gibt es: Da ist der Polizist, der einzige Mann im Lager mit einer Anstellung, ein kräftiger Typ, der im Krieg in den Wald geflüchtet war und dort 35 Tage überlebte. Er wohnt mit seiner Schwester in Jezevac. Nebenbei zieht er eine Schafherde groß. Dann sind da noch die Mitarbeiterinnen von Snaga Zene (Kraft der Frauen), einer Hilfsorganisation, die 1999 von einer Gruppe Dortmunder Frauen gegründet wurde: Eine Sozialarbeiterin, eine Ärztin und zwei Psychologinnen kommen jede Woche in Jezevac vorbei. Sie betreuen die Traumatisierten, entwickeln kleine Projekte und warnen die Mädchen vor Männern, die sie mitnehmen wollen.

Nicht immer erfolgreich. Eine 16-Jährige aus Jezevac hat sich prostituiert. Die Polizei fand sie halb nackt in einem Nachbarort in einem Haus mit zehn Männern. Die Männer wurden zu Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt. Das Mädchen lebt heute in einem sogenannten Sicheren Haus und wird psychiatrisch betreut. Die Männer, die es missbraucht haben, kommen jetzt nach und nach aus dem Gefängnis frei. So ein Ort ist Jezevac.

Spenden für Snaga Zene auf das Konto: Vive Zene Dortmund e. V., BLZ 440 501 99, Kto.-Nr. 291001297