Toleranz belebt das Geschäft


AUS KÖLN THOMAS DAFFYD

Die Beine sind glatt rasiert und lang, der Rock darüber ist sehr kurz. Zwischen Stöckelschuhen und Saum des Stewardess-Kostüms glänzen viele Zentimeter Seidenstrumpfhose an den schlanken Beinen. Die Waden jedoch sind zu kräftig, sie verraten, was beim Blick ins Gesicht offenkundig wird: Im Kleidchen steckt ein Mann, der Moderator. Er sagt beim schwul-lesbischen Veedelsfest im „Bermudadreieck“, der Kneipenmeile am Kölner Rudolphplatz, die Künstler an.

Schon Wochen vor dem Christopher Street Day (CSD) an diesem Sonntag haben sich Homosexuelle in Köln unter dem Motto „Cologne Pride“ auf die Parade eingestimmt: bei Partys, Vorträgen oder eben beim Straßenfest. Dafür wurden in der engen Schaafenstraße eine Bühne, Bierbänke und Kölschbuden aufgebaut. Auf einer Wiese schleudert ein 50-Jähriger, der Lederweste und sonst nicht viel trägt, Regenbogenfahnen durch die Luft. So zeigt die Szene Selbstbewusstsein. Das sei eine Eigenart der Kölner Community, sagt der Publizist Axel Krämer, der für seine „Schwule Heimatkunde“ ganz Deutschland bereist hat. Sein Eindruck von Köln: „Hier ist sehr viel schwuler Stolz.“

Der mischt sich mit Lokalpatriotismus zur oft verkündeten, gefühlten Wahrheit, Köln sei das Schwulen- und Lesbenzentrum Deutschlands. „Für die Kölner ist Köln die Schwulenhauptstadt Deutschlands“, sagt Krämer. Plausibel sei die Behauptung durchaus, bestätigt der schwule Heimatkundler. „Gemessen an der Größe gibt es hier die besten Strukturen.“ Zum Beispiel den Kölner Lesben- und Schwulentag (Klust), der sich als „Parallelstadtparlament“ (Krämer) in die Lokalpolitik einmischt. Außerdem gebe es reichlich Hilfsangebote. Etwa im Beratungszentrum Rubicon. Jacek Marjanski, der dort die MigrantInnengruppe leitet, sagt: „Als ich vor zehn Jahren von Frankfurt am Main hierher zog, kam mir Frankfurt wie eine Kleinstadt vor. Die Strukturen, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen, waren hier viel weiter.“

Auch die vielen Kneipen, Cafés und Clubs locken nach Köln. Inzwischen leben in der Domstadt etwa 100.000 Homosexuelle, sagt Klust-Vorstandsmitglied Markus Danuser. Damit stellen sie immerhin zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Nach dem Straßenbild und CSD-Besucherzahlen schätzt Danuser, dass der Anteil an der Bevölkerung weiter wachsen könnte, denn: „Köln ist ein Magnet für junge Schwulen und Lesben.“ Etwa für Alex. Die 25-jährige Studentin kam mit großen Erwartungen aus Stuttgart: „Ich hab mir Köln wie New York vorgestellt: lange Straßen voller Lesben und Schwule.“

Stricher vorm Kasernentor

Die gibt es auch, allerdings muss man wissen, wo. Denn die Community besteht aus ganz unterschiedlichen Gruppen und trifft sich an diversen Orten. Junge Schwule gehen abends etwa im Bermudadreieck aus. In der Altstadt kommen dicke Männer mit dichten Bärten zusammen, die ihre Nische „Bärenszene“ nennen. Auf der rosa Singleparty im „Tiefenrausch“ indes könnte man vergessen, dass hier nicht Frauen mit Männern verkuppelt werden, sähe man nicht ab und zu Frauenhände auf Frauenhintern. Madonna singt, Jungs tanzen auf Tonnen und Frauen schielen zur Leinwand, auf der die Flirtpost angezeigt wird. Viele haben sich Nummern aufs T-Shirt geklebt, an die man Nachrichten schreiben kann. „632, wann ziehst du dich endlich aus?“ zum Beispiel. Kommt keine Post, wird weitergetanzt – angezogen und allein.

Die Parade zum Kölner CSD fällt schriller aus. Da laufen seit nunmehr 15 Jahren Tunten, Bartmänner und Lederlesben mit, feiern sich selbst und stellen Forderungen, zum diesjährigen etwa gegen Kürzungen der Landesregierung unter dem Motto: „100 % NRW – nur mit uns!“. Mit der Stadt und ihren Bewohnern scheint es da weniger Probleme zu geben. Vertreter der Stadt kommen regelmäßig zur Parade. Entlang des Zuges werben Firmen um die homosexuelle Zielgruppe, Vater-Mutter-Kind-Familien mit Buggy gucken am Rande zu. „Köln ist eine homofreundliche Stadt“, sagt Rubicon-Berater Marjanski. „Vielleicht ist das die rheinische Natur: leben und leben lassen.“

Diese Toleranz mussten sich Homosexuelle erkämpfen, auch wenn es in Köln schon im Kaiserreich eine Szene gab. Diese wurde im 19. Jahrhundert gewissermaßen von den Preußen begründet. Der Preußenkönig befahl, Soldaten am Rhein zu stationieren und man schickte rund 50.000 junge, ungebundene Männer in die Stadt. „Kasernen und Universitäten bilden die Wiege der heutigen Schwulencommunities“, sagt der Soziologe Gary Dowsett, der über die Entstehung von Homosexuellenszenen in der ganzen Welt forscht. „Es waren Orte, an denen nur Männer zusammen kamen. Das schuf Gelegenheit für schwule Liebe.“

Die Kölner nahmen die Gelegenheit wahr. Rund um die Kasernen machten Lokale auf, in denen sich Stricher vom Sold aushalten ließen, fand der Historiker Jürgen Müller für das Kölner Centrum Schwule Geschichte heraus. Die Quellen sind rar, aber eindeutig: „Ab 1920 haben Lokale in einschlägigen Zeitungen wie Freundschaft geworben. Treffpunkte waren auch Pissoirs. Es gab auch Kontaktanzeigen, die für heutige Verhältnisse unglaublich harmlos, damals aber eindeutig waren“, erzählt Müller. So suchten Männer „Zeigefrauen“ für eine Alibi-Ehe. Wohl schon vor dem Ersten Weltkrieg hätten sich im Restaurant „Nettesheim“ am Hahnentor Homosexuelle getroffen, so Müller „Daraus entwickelte sich in der Weimarer Republik eine vielfältige Homosexuellenszene.“

Kein Versteckspiel mehr

Star dieser Szene war „Tilla, die lustige Sängerin“, mit bürgerlichem Namen Johann Baptist Welsch. Der Transvestit trat Ende der Zwanzigerjahre unter anderem im Dornröschen auf, dem beliebtesten Homosexuellenlokal Kölns. An Karneval wurde Tilla dort als Stargast angekündigt. Wenige Jahre später soffen im Dornröschen SA-Männer. Am Aschermittwoch 1933 wandelten die Nationalsozialisten den Homosexuellen-Treffpunkt in ein SA-Sturmlokal um.

Die Nazis schlossen weitere Kneipen, verfolgten Homosexuelle, überwachten Pissoirs. Einige Kneipen aber überstanden die Hetze. „Em steine Kännchen“ zum Beispiel. Weitere machten auf, etwa das „Le Caroussel“ am Alter Markt, das es noch heute gibt. Seit den Fünfzigerjahren setzten sich Vereine für die Abschaffung des Paragraphen 175 ein, der bis 1969 schwulen Sex unter Strafe stellte und dafür sorgte, dass die Homosexuellenszene im Untergrund lebte.

Das änderte sich nur langsam. „Noch in den Siebzigern war die Schwulenszene kaum sichtbar“, erinnert sich Theodor Cisch, der 1973 nach Köln kam und hier seinen Freund geheiratet hat. Bis zur Eröffnung der ersten Schwulenbar mit durchsichtigen Glasfenstern, dem „Corner“ in der Schaafenstraße, war es noch ein weiter Weg. „Die Communities kamen überall in der westlichen Welt seit den Sechzigern aus der Defensive und begannen, Gleichberechtigung zu fordern“, so beschreibt Szenenforscher Dowsett die Emanzipation. Als eine weitere gemeinsame Erfahrung sieht er die Reaktion auf Aids: „Es bildeten sich Gemeinschaften, die sich gegenseitig halfen.“ Die gab es auch in Köln. Das festigte den rosa Ruf der Stadt, sagt Historiker Jürgen Müller: „Das hat eine Eigendynamik entwickelt.“

Heute versteckt sich keiner mehr, zumindest in der Innenstadt ist die schwul-lesbische Welt in Ordnung. „Da ist es kein Problem, mit meinem Freund Arm in Arm zu gehen. In Vororten wie Chorweiler würde ich das nicht tun“, sagt Klust-Vorstandsmitglied Danuser, „dafür weiß ich als Anwalt zu viel über antischwule und antilesbische Gewalt.“ Dennoch glaubt er: „Hier können Schwule und Lesben gut leben. Die Kölner sind tolerant.“

Auch die Stadt schmückt sich mit der Szene, seit 2002 eine Studie ergeben hat, dass CSD-Besucher 53 Millionen Euro in die Stadt brachten. Werbung richtet sie gezielt an schwule und lesbische Touristen, sie erhalten „Pink Welcome Cards“ mit Ermäßigungen für Szenebars zur Begrüßung – wenn auch mit mäßigem Erfolg. In einem Jahr wurden nach Angaben von Köln Tourismus-Sprecher Olaf Pohl nur knapp hundert davon verkauft.

Kölns Ruf half immerhin, den Zuschlag für die „Gay Games“ 2010 zu bekommen. „Die Stadt hat mit Gay Marketing erst begonnen, als sie nicht mehr anders konnte“, sagt Michael Stuber aus Köln, der als „Diversity Berater“ Firmen hilft, Kunden und Mitarbeiter aus Minderheitenkreisen zu gewinnen. „Firmen, deren Marketing nur auf die klassische Familie ausgerichtet ist, können nicht auf Dauer erfolgreich sein“, hat Stuber errechnet. „Dazu hat sich die Gesellschaft zu sehr verändert.“

Standortfaktor Toleranz

Auch Städte profitieren davon, sich Homosexuellen zu öffnen, bestätigt Kevin Stolarick. Der US-Amerikaner hat den Standortfaktor Toleranz erforscht, also welche Bedeutung sie für die wirtschaftliche Zukunft von Städten und Regionen hat. Fazit: „Tolerante Regionen ziehen mehr Talent an. Kreative Menschen wohnen lieber an toleranten Orten, die offen für neue Ideen sind und wo sich jeder einfügen kann.“

Zum Beispiel auf dem schwul-lesbischen Veedelsfest. Auch Heterosexuelle stehen vor der Bühne, als der Moderator im Stewardess-Kostüm an den Bühnenrand tritt und eine Sängerin ankündigt. Die zieht sich nach jedem Lied ein Stück Stoff vom Leibe. Sie zupft eine Gurke aus dem Ausschnitt, dann ein Kondom von der Gurke, das Publikum lacht. Nur vor der Bühne vergessen zwei zuzuhören. Sie versinken drei Arien lang in einem Zungenkuss – und keiner guckt blöd. Dabei sind es ein Mann und eine Frau. Auch das geht in Köln.