Das halbe Land reist per Anhalter

Auf Kuba lebt die Schattenwirtschaft. Touristen, die individuell durchs Land reisen, werden häufig privat verköstigt. Doch das ist illegal. Genauso wie die Hahnenkämpfe, die immer sonntags in einem Weiler hinter den Mogotes stattfinden. Die Wassermänner haben sich derweil in die Berge zurückgezogen

„Gut sei es, den Vogel vor dem Kampf mit Öl zu bestreichen, damit der Konkurrent ihn nicht zu fassen kriegt“

VON REIMAR PAUL

Wo Kommunisten leben, sterben die Probleme. Eine schöne Parole ist das, kein Geringerer als Ernesto „Che“ Guevara hat sie erdacht. Der Spruch prangt auf einer halb zerborstenen Tafel an der Zufahrt zur Autobahn, die von Havanna nach Westen führt. Wir sind mit dem Leihwagen unterwegs in die Cordillera de Guaniguanico und in das Tal von Vinales. Unter einer Brücke stehen dutzende Menschen und winken. Das halbe Land reist per Anhalter. Eltern mit ihren Kindern, Arbeiter auf dem Weg in die Fabrik, Ärzte und Patienten, die ins Krankenhaus müssen. Obwohl die Versorgung mit Öl, Hugo Chávez sei Dank, in den vergangenen Jahren besser geworden ist, verkehren die überfüllten Busse nur unregelmäßig und sind stets verspätet.

Wir nehmen einen Soldaten und seine Freundin mit. San Diego de los Banos, ein Dorf mitten in der Sierra de Güira ist nur über sehr holprige Straßen zu erreichen. Wir sind vor allem wegen des Heilbades gekommen, dessen schwefelhaltige Quellen Hautausschläge, Asthma und allerlei andere Beschwerden lindern sollen. Doch Genesung erscheint schon beim ersten Blick auf das wuchtige Gebäude unvorstellbar. Der Putz ist fast vollständig abgeblättert, die meisten Scheiben sind kaputt, die Fenstergitter verrostet. Das Vordach wird nur noch notdürftig von geknickten Metallstreben gehalten.

Im 19. Jahrhundert lockte der Badekomplex gut betuchte Gäste aus Amerika und Europa an. Doch jetzt kommt kaum noch jemand, bestätigt der Kassierer. Er hockt hinter einem wackligen Tresen und sieht sehr müde aus. Stolze fünf Pesos Convertibles („Touristen-Pesos“, die in den staatlichen Wechselstuben etwa 1 zu 1 gegen den Euro getauscht werden) kostet der Eintritt, dann dürfen wir auf einer Art Rampe in die düsteren, katakombenartigen Untergeschosse absteigen. Durch die scheibenlosen Fenster fällt nur wenig Licht herein – und das ist auch gut so. Wände, Fußboden und Einrichtung sind zerschlissen, in den Umkleidekabinen wurden die Haken und Sitzbänke herausgerissen. Wo früher die Duschen waren, ragen nur noch rostige Rohre aus der Wand. Eines der drei kleinen Schwimmbecken ist gar nicht mehr in Betrieb. In einem weiteren schwimmen dicke weiße Klumpen, die wie Waschmittelreste aussehen. Das Wasser im dritten Bassin riecht faulig, ist aber wenigstens warm. Die halbe Stunde Wellness, für die bezahlt wurde, halten wir durch.

An der Höhle Cueva del Indio hinter der Kleinstadt Vinales fahren die klimatisierten, komfortablen Touristen-Busse aus Havanna fast im Minutentakt vor und spucken kurzbehoste Tagesausflügler sowie ihre kubanischen Reiseleiter aus. Vom Bus geht es auf einem Plattenweg zum ersten Souvenirshop, von dort zum Eingang der Höhle, wo ein Barde mit Gitarre schmalzige Balladen schmettert. Die 1920 entdeckte Tropfsteinhöhle Cueva del Indio ist Teil eines großen Höhlensystems im Tal von Vinales. Außer bizarren Stalaktiten und Stalagmiten gibt es dort jede Menge Fledermäuse zu sehen. Hauptattraktion der Cueva del Indio ist jedoch ein unterirdischer und ganz klarer Fluss, der aus den Felsen schießt. In der Höhle stauen sich die Besucher, hundert Meter Fußweg dauern fast zwanzig Minuten. Und da kommt auch schon ein Boot herangeschippert, das die Höhlengänger aufnimmt und am Ausgang wieder absetzt. Wer mag, kann sich nun in einem als „Original Cuban Village“ firmierenden Areal mit ein paar Hütten darauf die Füße vertreten.

Im Zentrum von Vinales halten zweimal am Tag die blauen „Via Azul“-Busse. Mit dieser Linie, die Havanna mit einigen Städten in Ost- und Westkuba verbindet, reisen die Rucksacktouristen. Die Polizei hat den Bürgersteig an der Haltestelle mit einem Seil abgesperrt. Dahinter drängeln sich mindestens fünfzig Kubanerinnen. Sie recken den Aussteigenden selbst gemalte Papptafeln mit den Namen von Unterkünften entgegen, zupfen an Ärmeln und Taschen. „Casa, casa“, schreien sie. Die privaten Vermieter und Restaurantbetreiber klagen über die hohen Steuern, die sie unabhängig vom real erwirtschafteten Umsatz zahlen müssen. Fünfhundert Pesos Convertibles im Monat zieht der Staat von den paladares – kleine Familienrestaurants mit begrenztem Platzangebot und eingeschränkter Speisekarte – ein, zweihundert Pesos von den Vermietern. Wer Frühstück und Abendessen serviert, muss noch mehr Steuern zahlen. Werbung auf einem Schild an der Haustür oder auf Visitenkarten kostet ebenfalls extra.

Die schweren Herbststürme haben Kubas Norden und Westen schwer getroffen. Auf der Badeinsel Cayo Levisa riss Hurrikan „Wilma“ die Hälfte der Bungalows aus Stein um, die meisten anderen Gebäude wurden abgedeckt. In Puerto Esperanza zerfetzten Sturm und meterhohe Wellen den Hafen, am Strand von Cayo Jutías wurde das Restaurant weggespült. Auch in vielen anderen Orten verloren die Menschen ihr Dach über dem Kopf. Es gab auch Verletzte, doch ums Leben gekommen sei niemand, wird übereinstimmend berichtet. Dank eines funktionierenden Warnsystems und der immer wieder geübten Evakuierungen.

Wir haben in Vinales in der Casa Jean Pierre eingecheckt. Das Häuschen mit dem kleinen Anbau liegt in einer Seitenstraße. Zwei Betten mit durchgelegenen Matratzen, ein Tischlein, ein kleines Bad mit tröpfelnder Dusche, die einzige Glühbirne funktioniert nicht. Durch die dünne Holzwand dringt das Geschnatter von Hühnern. Vermieter Jean Pierre empfiehlt uns eine Tour mit Vetter Miguel. Der ist ein kundiger Führer und bietet zu Pferd oder zu Fuß Wanderungen durch das Tal von Vinales an. Wir vereinbaren mit ihm einen Ausflug und das Honorar. An Tabakfeldern vorbei führt der Weg zu den Mogotes, kegelförmige Berge, die der Region ihr Gepräge geben.

Auch Miguel hat Bekannte. Den Campesino, der am Wegesrand Papayas und Kochbananen verkauft. Oder Gerardo, einen Bauern und Tabakpflanzer, der während einer einstündigen Pause kubanisches Landleben wie aus dem Bilderbuch präsentiert: einen kleinen Hof, ärmlich und unaufgeräumt, aber auch irgendwie idyllisch. Jede Menge Tiere, darunter Hühner, Truthähne, halbwilde Schweine und einen Wurf ganz junger Hunde. Einen Holzschuppen, in dem die Tabakblätter zum Trocknen gelagert werden. Und eine mechanische Zuckerrohrpresse, die den leckeren Saft aus den Stengeln zwingt und in einen Blechnapf laufen lässt. Aus dem für „Eigenbedarf“ abgezwackten Teil der Tabakernte vom Vorjahr dreht Gerardo ein paar Zigarren, die denn auch gleich verkostet werden und vorzüglich schmecken. Recht offen erzählt Miguel über die im sozialistischen Kuba verbotenen Hahnenkämpfe, die immer sonntags in einem Weiler hinter den Mogotes stattfinden. Hunderte Leute kommen zu dem Spektakel und wetten, Ausländer und Journalisten werden aber nicht gerne gesehen.

Miguel selbst besitzt rund ein Dutzend Kampfhähne und kennt alle Tricks. Gut sei es, den Vogel vor dem Kampf mit Öl zu bestreichen, damit der Konkurrent ihn nicht so leicht zu fassen kriegt. Miguel zockt auch bei einer Lotterie mit, neulich hat er dabei sogar fast 100 Pesos Convertibles gewonnen. Das Ganze läuft streng geheim, die Einsätze werden innerhalb einer bestimmten Frist von den Mitspielern eingetrieben. Die Gewinner-Zahl kommt sonntags im Radio – im konterrevolutionären Sender Radio Martí aus Florida.

Luís? Die Alte, die uns auf dem lehmigen Weg hinter dem Hotel La Ermita abfängt, lächelt freudlos. Luís sei im Knast. Glückspiel, Verkauf von geklauten Zigarren, irgendwelche krummen Geschäfte, was weiß denn sie. Das private Restaurant, das Luís und seine Frau Nora am Hang des Hügels hinter Vinales betrieben haben, gebe es demzufolge auch nicht mehr. Was aber nicht heiße, fährt die Alte fort, dass wir nun auf gutes Essen verzichten müssten. Halb gedrängt, halb neugierig folgen wir der Frau den Berg hinab durch ein Gewirr von Hütten und kleinen Höfen. Halb nackte Kinder, Hühner und Schweine wuseln durcheinander, fließendes Wasser gibt es hier nicht.

„Ein unterirdisches Bächlein plätschert, und da kommt auch schon ein Boot herangeschippert“

Die Alte schiebt uns schließlich in einen Anbau mit nur einem einzigen Raum. Wie im Märchen ist der klobige Tisch bereits gedeckt, und es erscheint eine junge schöne Köchin und zählt ihr Angebot auf. Hähnchen und Schweinefleisch gibt es, frischen Fisch, Krabben und Langusten. Das Essen ist vorzüglich, die Portionen sind überreichlich bemessen. Das versteckte Gasthaus ist illegal, denn Meeresfrüchte dürfen von den zugelassenen privaten Restaurants gar nicht angeboten werden.

Die „Hombres Acuaticos“, die geheimnisvollen Wassermenschen, wohnen nicht am Meer oder an einem See, sondern in den Bergen. Da oben irgendwo, sagt die Frau, die vor ihrer Hütte in einem hölzernen Mörser getrocknete Kaffeebohnen zerstampft. Der Weg dahin sei mühselig und nur schwer zu finden. Tatsächlich wissen wir schon an der übernächsten Gabelung nicht mehr weiter. Doch zum Glück kommt Machete schwingend und pfeifend ein Campesino über den lehmigen Acker gestapft, der gerade nichts Besseres zu tun hat. Kein Problem, sagt er, für ein paar Pesos bringt er uns hin. Der Pfad führt durchs Unterholz, an Wasserfällen und Tümpeln vorbei und über Brücken, die nur aus einem rutschigen Baumstamm und einem Draht zum Festhalten bestehen. Immer höher hinauf geht es in die Kalksteinberge.

Wassermann Antonio lebt in einer recht geräumigen Hütte mit wunderschönem Ausblick auf das Tal von Vinales. Er ist wie seine Gesinnungsfreunde Selbstversorger. Frei herumlaufende Tiere garantieren ihm Fleisch und Eier, Mangos und Papayas die nötigen Vitamine, Kaffeesträucher und Tabak den Genuss. Die „Acuaticos“, sagt Antonio, glauben an die Heilkraft des Wassers. Zum Kurieren ihrer Krankheiten und Gebrechen benutzen sie angeblich keine anderen Arzneien oder Kräuter. Jede Familie hat ihre eigene Quelle. Früher inszenierten die Wassermenschen auch öffentlich Heilungen von Kranken, doch die Revolution machte damit Schluss. Von mehreren Dutzend „Acuaticos“, die sich nach dem Sieg Fidel Castros in die Berge zurückzogen, leben nur noch wenige. Ihr Anführer starb 2001 im Alter von fast 100 Jahren.

Antonio nimmt uns mit zu seiner Wasserstelle. Noch einmal geht es eine halbe Stunde auf schlammigem Pfad bergauf, dann müssen wir uns durch einen schmalen Felsspalt in eine Höhle zwängen. Zunächst ganz leise, dann immer deutlicher ist ein Plätschern zu vernehmen. Der Abstieg zur Quelle im Halbdunkel ist nicht ganz ungefährlich. Wir probieren das Wasser gleich vor Ort und füllen auch die mitgebrachten Flaschen auf. Es schmeckt, nun, wie Wasser. In der Nacht haben wir Durchfall.