Ist Rücktritt Schwäche?
JA

Immer mehr Politik-Granden nehmen ihren Hut. Nicht immer mit überzeugenden Begründungen

Claudia Roth, 55, ist die Bundesparteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen In Demokratien werden Ämter von vornherein nur auf Zeit vergeben. Aber wenn man für ein demokratisches Amt kandidiert und es annimmt, sollte man es auch bis zum Ende hin ordentlich ausfüllen. Gerade für die immer komplexer werdenden Themen und Abläufe in der Politik braucht es auch Leute mit großer Erfahrung, die selbst in schwierigen Zeiten die übernommene Verantwortung ernst nehmen. Ohne eine gewisse Konstanz verliert die Politik an Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Vor allem in konservativen Milieus spricht man ja gern von Pflichterfüllung. Angesichts der Art und Weise, wie Horst Köhler, Roland Koch und jetzt auch Ole von Beust aus ihren Ämtern geschieden sind, ist davon aber offenbar nicht mehr viel übrig. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass eine ganze Generation bei der CDU gerade vor allem damit beschäftigt ist, die eigenen Ämter wieder loszuwerden. Allerdings ist der Begriff Schwäche in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht falsch, er zeugt von einer machohaften Vorstellung von Politik. Es kann ja ein Zeichen von Stärke sein, wenn man in Extremsituationen lieber sein Amt als seine politische Überzeugung aufgibt. Auch gibt es Situationen, in denen aus gesundheitlichen oder familiären Gründen keine andere Möglichkeit bleibt, als vorzeitig eine übernommene Aufgabe abzugeben. Wer aus solchen Gründen sein Amt aufgibt oder aufgeben muss, hat immer meinen vollen Respekt.

Gerd Langguth, 64, ist Politologe, CDU-Experte und schrieb eine Horst-Köhler-BiografieHorst Köhlers Rücktritt war ein klares Zeichen von Schwäche, denn er ist an sich selbst gescheitert. Das Frustpotenzial wurde so groß, dass er als jemand, der als früherer hochrangiger Beamter nie die Erfahrung der persönlichen Kritik machen musste, seine Aufgabe sogar „mit sofortiger Wirkung“ hinschmiss. So musste innerhalb von dreißig Tagen ein Nachfolger her. Die Begründung seines Rücktritts lässt zudem viele Fragezeichen offen. Noch ein Jahr vorher hatte er sich wiederwählen lassen, er wusste also um Widrigkeiten einer solchen Aufgabe. Institutionell ist bei einem Präsidenten – im Gegensatz zu einem Regierungschef – kein Rücktritt vorgesehen. Politikerrücktritte gab es immer schon, herausgehobenes Beispiel: Willy Brandt. Früher lautete der Vorwurf, Politiker klebten an ihren Sesseln. Wenn jetzt Roland Koch und Ole von Beust, die schon im Jungenalter in der Politik begonnen haben, frühzeitiger aufgeben, ist das nicht nur dem Rüttgers-Syndrom einer möglichen Abwahl geschuldet, sondern auch der rationalen Einsicht, dass es irgendwann zu spät sein kann, noch einmal eine Existenz nach der Politik aufzubauen. Ein früheres Loslassen kann auch Stärke sein, nämlich innere Distanz zur Politik aufzeigen.

Berthold Blank, 29, studiert Philosophie und hat auf taz.de kommentiertIst der Rücktritt die Reaktion auf einen deutlichen Fehler, und ist er ehrlich gemeint, dann halte ich ein derartiges Verhalten für richtig. Das merkt man meistens daran, dass viele Bürger ehrlich betroffen sind. Dient der Rücktritt aber dazu – und das scheint in dem einen oder anderen der jüngsten Fälle so zu sein –, Intrigen zu spinnen, ohne diese offen darzulegen, wenn also ein Rücktritt geschieht, um bewusst Dritte zu schädigen und auf diese Art „Politik zu gestalten“, dann ist ein derartiges Verhalten nicht zu tolerieren. Es ist feige und hinterhältig und nichts anderes. Werden mit dem Rücktritt weiterführende Ziele verfolgt, ist es keine Schwäche, denn Rücktritt bedeutet Einsicht. Diese fehlt aber anscheinend bei vielen der kürzlich Zurückgetretenen. Bestimmt ist auch mit Ole von Beust keiner zurückgetreten, der nicht genügend Fehler in seiner Amtszeit begangen hätte, aber diese Einsicht war ja wohl nicht der Grund für seinen Schritt. Daher ist diese „Rücktrittspolitik“ nicht nur nicht angebracht, sondern sogar schädlich!

NEIN

Peter Lösche, 71, ist Parteienexperte und emeritierter Professor für Politikwissenschaft

Nein, Rücktritt oder Flucht aus dem Amt, gerade aus dem des Ministerpräsidenten, ist nicht nur persönliche Schwäche, wie viele Kommentatoren in diesen Tagen schreiben. Vielmehr gibt es gute, systematische Gründe. Die Welt ist bekanntlich komplizierter geworden. Ein Ministerpräsident agiert auf fünf verschiedenen politischen Ebenen, der lokalen, regionalen, nationalen, europäischen, globalen – zwischen Jubiläum der Freiwilligen Feuerwehr in Nikolsberg und Wirtschaftsdelegation nach Schanghai. Ferner: Die Parteien sind heute kein Kraftquell mehr. Noch in den 60er und 70er Jahren lieferten die katholische Soziallehre der CDU, der demokratische Sozialismus der SPD eine Grundlage an Werten und Prinzipien, sie vermittelten Orientierung, Selbstbewusstsein, schufen Verantwortung. Man „diente“ einer Sache, auch seiner Partei. Weder Bernhard noch Hans Jochen Vogel hätten ihre Ämter einfach hingeschmissen. Dem neuen Politikertypus fehlt das Ethos des alten Volksparteilers. Man will nicht in den Sielen sterben, den dritten Lebensabschnitt vielmehr genießen – und vielleicht noch richtig Geld verdienen. Wir sollten verstehen: Politiker sind zuweilen physisch und psychisch ausgelaugt. Zwei oder drei Legislaturperioden in hohen Ämtern reichen.

Andrea Nahles, 40, ist seit November vergangenen Jahres Generalsekretärin der SPD

War es ein Ausdruck von Schwäche, dass Ole von Beust als Bürgermeister von Hamburg zurückgetreten ist? Es war ein schwacher Rücktritt – aber war er von Schwäche geprägt? So bedenklich ich seinen Rücktritt auch finde, es lässt sich von außen schwer beurteilen. War es ein Ausdruck von Stärke, dass Margot Käßmann von ihrem Amt als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche zurückgetreten ist? Es war ein starker Rücktritt – aber war er von Stärke geprägt? Wer von uns kann wirklich sagen, was letztlich den Ausschlag gab? Nein, Rücktritte sind nicht unbedingt Zeichen von Schwäche. Stärke und Schwäche sind meines Erachtens nicht die richtigen Kategorien, um Rücktritte einzuordnen. Was ist damit gewonnen, wenn wir jemanden als schwach abstempeln? Wichtig ist dagegen, ob Rücktritte verantwortlich sind oder nicht. Letztlich muss jeder selbst entscheiden, ob sie oder er sich das Amt noch zutraut. Aber gewählte Repräsentanten sollten dabei nicht ihre persönlichen Interessen in den Vordergrund stellen, sondern ihre Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn die Gewählten einfach so die Segel streichen, schwächt es das Vertrauen in unsere Demokratie.

Michael Philipp, 48, ist Historiker und beschäftigt sich als Buchautor mit Rücktritten

Mit seiner beleidigten Amtsflucht hat Horst Köhler das Prinzip Rücktritt in Misskredit gebracht. Doch das war ein Sonderfall. Die meisten Rücktritte sind keineswegs überflüssig, und sie kommen selten zu früh. Die Fälle sind Legion, in denen Amtsträger Skandale aussitzen oder viel zu spät zurücktreten. Wenn der Satz fällt, „Ich gehe, um von meinem Amt Schaden abzuwenden“, ist der Schaden längst eingetreten. Keineswegs besser steht es um die lange verzögerten Abschiede der im Amt Ergrauten, wo von Adenauer bis Stoiber längst auch die eigene Partei über die allzu große Beharrlichkeit klagte. Ein Rücktritt ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Einsicht – bei einer Skandalisierung in die Notwendigkeit, das Amt zu reinigen, bei überlanger Amtszeit in die Notwendigkeit des Generationswechsels. Rücktritte sind ein wichtiges Instrument der politischen Kultur, sie müssen nur richtig angewendet werden. Dazu gehört eine überzeugende Begründung wie der passende Moment. Das Kochrezept besagt, wie es richtig geht: abtreten im Zenit der Macht, ohne Skandale, ohne Gerüchte von Amtsmüdigkeit und ohne ungeduldige Nachfolgeaspiranten. Roland Kochs Abschied war ein gelungener Rücktritt.