Das unbemerkte Festival

Um künstlerische Spitzendarbietungen abzufrühstücken geht man nicht zum Kindertheater. Es gibt aber auch viele und viele bessere Gründe dafür es zu tun. Das zeigen 24 Gruppen von fünf Kontinenten beim neunten Welt-Kindertheater-Fest in Lingen

aus LingenBenno Schirrmeister

Wieso die Mutter an AIDS gestorben ist, das ist zum Beispiel eine Frage, die sich aufdrängt. Die bohrt. Die eine Antwort sucht. Szenisch kann die so aussehen, dass die junge Frau auf ihrem Weg von der Arbeit nach Hause gezeigt wird, Tag für Tag, und ein obskurer Mann mit einem das gesamte Gesicht verdeckenden Schlapphut sie dabei beobachtet, Abend für Abend. Bis er sie anspricht und ihr Geld anbietet. Das sie ausschlägt. Beim nächsten Mal, am nächsten Tag, da verfolgt er sie einfach, bis hinter die Bühne. Ihr Schrei ist noch zu hören, schrill und ohne Hoffnung. Willkommen im Kindertheater. So wie es in Lingen zu erleben ist.

Das Stück heißt „Tsitsi“ und es ist keine emsländische Produktion, sondern made in Zimbabwe, von der Gruppe des Chipawo Nyameni Centre. Das muss gesagt werden, weil sich die AIDS-Problematik beim Stichwort Lingen nicht sofort erschließt. Lingen ist eine handliche Stadt, liegt fachwerkromantisch und backsteinschön seit 1031 Jahren an der Ems und die Niederlande sind nah: Das Autoradio empfängt ein rauschendes Medley von Radio Holland, NDR und WDR. Und wer sich anhand der Lokalzeitung aus der Ferne ein Bild vom Emsland machen will, vermutet: Im Emsland stehen die Leute stets in größeren Gruppen vor Häuserwänden oder auf Freitreppen, lächeln gezwungen und halten Papptafeln hoch.

Diesen Brauch gibt es aber nicht. Stattdessen findet in Lingen alle vier Jahre ein großes Theaterfestival statt, 24 Gruppen und über 400 Spieler sind es diesmal: Ein internationales Bühnentreffen, die Beiträge sind von einer Fachjury ausgesucht. Und rauscht an den bundesdeutschen Feuilletons regelmäßig vorbei. Liegt das an Lingen? Oder daran, dass es sich ums Welt-Kindertheater-Fest handelt?

Alternierend mit Lingen findet das Fest seit 1990 alle vier Jahre in anderen Ländern statt: Auf Kuba, in Japan, und in Dänemark. Stets war die Resonanz größer. Und in zwei Jahren ist Russland dran. Moskau, die Stadt mit der enormen Bühnentradition. Mit den ehrfurchtsgebietenden Schauspielhäusern. Und gerade an den Türen dieser großen Häuser habe er angeklopft, erzählt Norbert Radermacher. Und sei auf Begeisterung gestoßen. Radermacher ist der Erfinder und künstlerische Leiter des Festivals. In Russland sei „der Stellenwert von Kindertheater ein ganz anderer als in Deutschland“, sagt er. „In Deutschland wird das oft zu sehr von der Schule her gedacht.“

Der originelle Zugriff des Deutschlehrers auf Schillers Räuber ist wirklich nichts, was Bühnenwirklichkeit werden müsste. Und man geht auch nicht zum Kindertheater, um künstlerische Spitzendarbietungen abzufrühstücken. Wobei es selbst da Überraschendes gibt: Souverän spielt eine slowenische Gruppe mit Videosequenzen in ihrer Version von „Orpheus und Eurydike“. Aber das Berührende liegt doch da, wo das Kindertheater zum Gegensatz des professionellen Schauspielbetriebs wird.

Es ist nämlich so, dass die Geschichten und das Leben der SpielerInnen miteinander zu tun haben. „Wir haben“, sagt eines von den Chipawo-Kindern im Prolog von „Tsitsi“, „unsere Erfahrungen in einem großen Topf zusammen geworfen und“, er rührt mit einem unsichtbaren Löffel in einem imaginären Kessel, „kräftig umgerührt, und das ist das Stück“. Er lacht. Dass die Geschichte eine verdammt traurige ist, scheint ihn nicht zu kümmern. Der Orpheus aus Ljubljana sagt dagegen nichts. Und doch verrät er, was ihn und seine Gruppe an dem antiken Mythos von der Macht der Musik angesprungen haben könnte. Einmal greift er deutlich asynchron zur Musik in die Saiten seiner Pappmaché-Leier. Weil er taubstumm ist. So wie viele Kinder aus der slowenischen Gruppe.

„Theater ist“, sagt Radermacher, „gerade für Kinder eine ideale Bühne um ihre Ideen, ihre Probleme und ihre Fragen an die Welt auszudrücken.“ Die sind nicht immer angenehm. Und eine ehrliche Antwort fällt einem meist auch nicht sofort ein. Das ändert aber nichts daran, dass sie drängend sein können und wichtig. Und einen Anspruch haben, gehört zu werden.

Das Festival läuft noch bis zum 21. Juli