Radikal schleichend

Allüberall ist etwas Wunderliches zu beobachten: die Entkirchlichung

„95 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind entkirchlicht“, wird gejammert

Immer häufiger lesen wir in der letzten Zeit von der „Entkirchlichung“. So ist jüngst die Giordano Bruno Stiftung über den „seit Jahren stabilen Trend der Entkirchlichung“ erschrocken. Es sei doch aber mindestens ein „250 Jahre alter Trend der Entkirchlichung“, konnte da die fleißige Ruhr Uni Bochum präzisieren. Dagegen haben die Zeitenblicke recherchiert, dass es erst eine „im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung einsetzende Entkirchlichung“ gegeben habe.

Besonders schlimm war, wie immer, die DDR. Glühend geißelt Laienentkirchlichungsexpertin Anke Gröner eine „von der SED mit großem Erfolg vorangetriebene Entkirchlichung“. Anstatt dem toten Feind diesen einen Sieg zu gönnen, schimpft die EKD über „eine staatlich forcierte Entkirchlichung im Osten“.

Auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken verurteilt den „hohen Grad der Entkirchlichung“ in scharfer Form. Wo doch der Westen im Segment der Entkirchlichung nicht die Bohne besser ist. Der sei nämlich „drastisch entkirchlicht“, weiß Die Welt. Exakter arbeiten die Kirchenlichter vom Advent-Verlag: „95 % der Bevölkerung in Deutschland sind entkirchlicht“, belegen sie. Und das Schlimmste: Vor unseren Augen wird munter weiter entkirchlicht. Das Sonntagsblatt beklagte noch vor wenigen Jahren, was die Bundesregierung von früh bis abends so treibe, sei „ein Stück weit die Demonstration der Entkirchlichung“. Schrecklich. Und auch das Erzbistum Köln hat eine „grundsätzliche Entkirchlichung der Schulen“ beobachtet.

Nun gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Qualität, ja „erhebliche Unterschiede im Grad der Entkirchlichung“ („Zeitzeichen“): „massiv“ nennt sie die Uni Frankfurt an der Oder, „zunehmend“ die Uni Bochum, „radikal“ die St.-Remberti-Gemeinde Bremen, „wachsend“ die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, „schleichend“ wiederum die Evangelische Kirche Berlin/Brandenburg/schlesische Oberlausitz (BEBO).

Was sollen wir nun glauben? Gibt es tatsächlich „ein rapides Fortschreiten der Entkirchlichung“, wie es die Grünen von Berlin erkennen? I wo, „total und endgültig“ sei sie, bemerken die Beiträge zur Musikwissenschaft und Musikgeschichte, unter Umständen „breit“, wie die Uni Mainz konstatiert, „ausgeprägt“, wie das Diakonische Werk der EKD feststellt und „völlig“, wie sogar der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten anerkennt. „Die Welle der Entkirchlichung“ (Hans-Otto Emil Wölber) sei „kaum zu leugnen“ (Uni Mainz), sie sei überdies „radikal“ (diesmal Uni Münster) und „deutlich spürbar“ (BEBO).

Was also tun gegen die entsetzliche „Nachhaltigkeit der Entkirchlichung“, wie sie die Uni Leipzig nicht müde wird anzuprangern, die so was von „individuell“ (Uni Köln) und nicht zuletzt „generell“ (Uni Augsburg) sei, aber auch „weitgehend“ (Deutsche Bischofskonferenz) und somit die ganzen Sakristeien in Atem halte? Wer könne den „fortschreitenden Prozess“ (Die Tagespost), ach was: „massiven Prozess der Entkirchlichung“ (Uni Leipzig) aufhalten?

Denn anstatt „die Entkirchlichung als Herausforderung missionarischer Grenzüberschreitung“ (Freckenhorster Kreis) zu begreifen, wird gejammert. Zu allem Überfluss kichert die Berliner Zeitung über die „so genannte Entkirchlichung“. Und die Süddeutsche darf ungestraft behaupten, „der Unterschied von Entkirchlichung und Entchristlichung steht im Hintergrund“. Wahrscheinlich werden die mehr und mehr mahnenden Stimmen in einer „Zeit der allgemeinen Entkirchlichung“ (FU Berlin) nicht einmal mehr ernst genommen. Wer den Schaden hat, braucht sich um den Spott nicht zu sorgen. MICHAEL RUDOLF