„Wie die EU in den Fünfzigerjahren“

In Lateinamerika bilden sich zwei Blöcke heraus: ein US-abhängiger und die Wirtschaftsunion Mercosur um die Kernstaaten Brasilien, Argentinien und Venezuela. Der Weg zu einem effektiven Wirtschaftsbund ist weit, aber möglich

taz: Herr Batista, seit letzter Woche ist Venezuela das fünfte Vollmitglied der lateinamerikanische Wirtschaftsunion Mercosur. Schon zwischen den bisherigen Mitgliedern kriselte es. Wird das jetzt noch schlimmer, wie liberale Kritiker meinen?

Paulo Nogueira Batista Jr.: Nein, im Gegenteil. Die größte Gefahr ist momentan, dass die kleinen Länder aussteigen. Paraguay und vor allem Uruguay sind unzufrieden mit Argentinien und Brasilien. Zugleich werden sie von den USA umgarnt. Das hat nichts mit Venezuela zu tun. Venezuela verfügt über einen beträchtlichen Devisenvorrat und verwendet einen Teil davon, um Länder wie Argentinien zu unterstützen – das könnte es jetzt auch mit Paraguay und Uruguay tun.

Sind die Klagen der Kleinen berechtigt?

In mancher Hinsicht ja. Uruguay hat es sehr schwer, manche Produkte auf dem brasilianischen Markt zu platzieren, wegen nichttarifärer Barrieren, die undurchsichtig gehandhabt werden, aufgrund des Drucks von Unternehmerlobbys, die Einfluss in irgendeinem Ministerium haben. Doch die brasilianische Regierung kümmert sich seit ein paar Monaten ernsthafter darum, denn ein Rückzug Uruguays und Paraguays wäre ein enormer politischer Rückschlag. Zugleich haben Brasilien und Argentinien klar gemacht, dass man nicht Mitglied einer Zollunion sein und mit anderen Ländern Freihandelsabkommen abschließen kann.

Zur „Vertiefung“ des Mercosur bekennen sich alle Regierungen. Was tun sie konkret?

Wenig. Wir dürfen ja nicht die schwere Krise Argentiniens bis 2003 vergessen, die schlimmste seit der Großen Depression 1929. Auch Brasilien hatte seine Krisen. Immerhin hat der Handel innerhalb des Blocks zuletzt sehr zugenommen, vor allem wegen des Wachstumsschubs in Argentinien. Im letzten Jahr haben sich auch die Regierungen Lula und Kirchner wieder aufeinander zubewegt. Aber die große Neuigkeit ist Venezuelas Beitritt.

Steigen damit die Chancen für eine andere, weniger liberalen ökonomische Politik in Brasilien?

Nein. Es wird zwar vage von Koordinierung der makroökonomischen Politiken geredet, aber in der Praxis hat man das nie umgesetzt. Die wichtigsten Ziele sind zunächst tatsächlich der schrittweise Ausbau des Freihandels zwischen Venezuela und den anderen Ländern, dann die Übernahme des gemeinsamen Außenzolltarifs. Außerdem stärkt Venezuela mit seinen riesigen Öl- und Gasreserven die Energiesicherheit der anderen.

Wie sieht es mit der viel beschworenen „sozialen“ Integration aus?

Auch nicht besser. Bisher hat sich der Mercosur nie darum gekümmert, das war auch bei der Gründung 1990 kein Ziel. Daran wird auch Venezuela zunächst einmal nichts ändern können. Der Mercosur ist noch weit weg vom Integrationsgrad der EU. Hier in Südamerika sind wir etwa so weit wie Westeuropa in den Fünfziger-, Sechzigerjahren.

Wie will man die liberal regierten Länder Chile, Kolumbien und Peru integrieren?

Die „Bolivarianische Alternative für die Americas“ (Alba) von Hugo Chávez und Lulas „Südamerikanische Gemeinschaft der Nationen“ sind sehr vage, voller Rhetorik. In Südamerika bilden sich zwei Teile heraus – ein atlantisches, östliches Südamerika und ein westliches, pazifisches. Letzteres ist über Freihandelsverträge an die USA gebunden – oder wird dies bald sein. Es sind zwei konkurrierende Projekte: der Mercosur, zu dem Bolivien stoßen könnte und vielleicht auch Ecuador – und das US-Modell. Nachdem die Verhandlungen über die Freihandelszone für die Americas (Alca) in der Sackgasse gelandet sind, knüpft Washington sein Netzwerk von bilateralen Freihandelsabkommen weiter, auch mit den zentralamerikanischen Ländern.

Was bedeutet das US-Modell für die betroffenen Länder?

Ein Festschreiben ihrer Abhängigkeit. Sie geben einen Großteil ihrer Autonomie in Schlüsselbereichen auf, etwa in der Industriepolitik, beim Umgang mit dem Auslandskapital, beim geistigen Eigentum und bei der Vergabe von Regierungsaufträgen. Zugleich bekommen ihre Produkte kaum mehr Zugang zum US-Markt.

Was würde sich ändern, wenn die brasilianischen Präsidentenwahl im Oktober nicht Lula gewänne, sondern der Oppositionskandidat Geraldo Alckmin?

Die Kräfteverhältnisse in Südamerika würden sich stark verschieben. Alckmin würde sich außenpolitisch stärker an den USA ausrichten. Heute besteht zumindest die Chance für das atlantische Südamerika, einen von den USA unabhängigen Block aufzubauen.

Würde Lula nach einer Wiederwahl seine ökonomische Politik ändern?

Bestenfalls in kleinen Schritten, aber sicher nicht radikal.

INTERVIEW: GERHARD DILGER