Schaufeln bis zum Umfallen

AUS HERNE MIRIAM BUNJES

Gerade mal 10 Uhr und schon fast 60 Grad. Dieter Krieger hat kleine Schweißperlen am Haaransatz. Es ist sein 49. Sommer auf dem Bau, die meiste Zeit hat er hinterm Lenkrad von Baggern und LKW verbracht. Und in deren Fahrerkabinen kann es ganz schön kochen. „Eigentlich ist für uns immer schlechtes Wetter“, sagt Krieger. Er wischt die Schweißtropfen mit dem braungebrannten Arm in die grauen Haare und klettert aus seinem Kipplaster. Scheint die Sonne, ist es schnell zu heiß. Bei Regen und Kälte tun die Knochen weh. „Acht Wochen noch“, sagt er. „Mann“, sagen die Kollegen. „Neid, echt.“

Dieter Krieger ist 63 und damit eine Rarität auf deutschen Baustellen. Gerade mal fünf Prozent der 700.000 Baufacharbeiter in Deutschland sind älter als 55 Jahre alt. Die meisten hören früher auf, weil ihre Körper nicht mehr mitmachen oder weil sie niemand mehr einstellt.

Dieter Krieger hat nichts: keine Rückenschmerzen, keine Knieprobleme, keine kaputten Gelenke. Auch dazu sagen die Kollegen „Echt, Wahnsinn, ganz ganz selten.“ Krieger will trotzdem nicht bis zum Rentenalter weitermachen auf seinem Bagger mit 60 Grad Innentemperatur. „Seit ich 14 bin, mach ich das schon“, sagt er. „Ich hab es mir verdient, jetzt ein gesunder Rentner zu werden.“ Auf 7,2 Prozent seiner Rente verzichtet er deshalb. 3,6 Prozent Abschlag pro ausgelassenes Arbeitsjahr sieht das deutsche Rentengesetz vor. „Egal“, sagt Krieger.

„Mit 50 schon kaputt“

Zwei Abschlagsjahre, damit könnten viele Bauarbeiter noch leben. „Zur Zeit erreichen aber noch nicht einmal fünf Prozent das jetzige Rentenalter von 65 Jahren“, sagt Sven Bönnemann, Sekretär bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) im Bezirk Bochum-Dortmund. Künftig sollen sie bis 67 arbeiten, das neue Rentenalter ist Teil der Koalitionsvereinbarungen zwischen SPD und CDU. „Bis spätestens 2029 arbeiten alle bis 67“, sagt Peter Ziegler, Sprecher von Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD). „Wir alle leben länger, darüber freuen wir uns“, sagte der Minister auf einer Podiumsdiskussion der Dortmunder Baugewerkschaft im Mai. Wenn er sich an diese Rede erinnere, stellten sich bei ihm noch immer die Haare hoch vor Wut, sagt Sven Bönnemann. Von der „Initiative 50 Plus“ – gestern Thema im Bundeskabinett – schwärmte der Minister und stellte den IG-BAU-Mitgliedern Wiedereingliederungsmaßnahmen für über 50-jährige Arbeitslose vor. „Keine Baufirma stellt jemanden über 50 ein“, sagt Bönnemann. „Mit 50 sind die meisten doch schon kaputt.“

„Mein Arzt sagt, dass ich mich mehr schonen soll“, sagt Emanuel Anane. Sein Grinsen ist schief, auf der linken Gesichtshälfte geht der Mundwinkel fast bis zum Ohr. Alle lachen über seinen Arzt. Laut und zynisch. Zigarettenpause auf der Herner Baustelle von Echthoff-Holland, einem Bochumer Hoch- und Tiefbauunternehmen. Sieben Männer erneuern die Wasserrohre in einer kleinen Wohnstraße im Herner Zentrum. Was Dieter Krieger mit seinem Bagger aufreißt, schaufeln Emanuel Anane und Salverio Ancora so beiseite, dass sie die Rohre unter der Straße herauslösen können. Seit drei Wochen.

Emanuel Anane hat Probleme mit der Bandscheibe, holt sich einmal in der Woche eine Spritze vom Orthopäden gegen die Schmerzen im Kreuz. Er ist 45, über 1,90 Meter groß und steht den ganzen Tag gebückt. „Ich schaffe es auf keinen Fall bis 67“, sagt er. „Ich schaffe es, wenn ich Glück habe, bis 60.“ – „So wie du jammerst, wohl nicht mal das“, sagt Salverio Ancora und steckt sich seine Selbstgedrehte an. Aber auch er merkt, dass er nicht mehr 16 ist. „Morgens komme ich kaum noch aus dem Bett, so steif sind meine Gelenke“, sagt er. „Abends komme ich mit langen Armen nach Hause, morgens gehe ich mit schiefem Rücken aus dem Haus. Das soll ich noch 27 Jahre machen?“ Er redet sich in Rage, fuchtelt mit den Händen in der Luft. „Warum machen wir nicht jetzt schon Arbeitskampf“, sagt er zum Gewerkschaftssekretär. „Wir machen uns doch schon seit Monaten Sorgen.“

Salverio Ancora bringt um die 1.800 Euro netto nach Hause – wenn es gut läuft. Bei Kurzarbeit wegen schlechter Auftragslage oder Dauerfrost sind es auch mal 600 Euro weniger. Auch er hat nach der 8. Klasse auf dem Bau angefangen. „Spezialbaufacharbeiter bin ich“, sagt er. Das Wort bringt ihn zum lachen. Von seinen 40 Lebensjahren hat er 26 geschaufelt. Wenn er es bis 60 schafft, wird von seiner Rente fast 25 Prozent abgezogen. „Ich hab drei kleine Kinder, meine Frau ist Hausfrau, Geld zum Weglegen bleibt bei uns nicht übrig“, sagt der zierliche Italiener. „Ich muss also versuchen, durchzuhalten. Und dann? Dann bin ich nach einem Jahr Rente tot.“

Drohende Altersarmut

„Rente mit 67 bedeutet für unsere Beschäftigten Altersarmut“, sagt Gewerkschaftssekretär Bönnemann. „Beinahe jeder Beschäftigte muss mit Rentenkürzungen von etwa 18 Prozent rechnen.“ Der Weg zu Hartz IV ist dann nur kurz, sagt der Gewerkschafter. „Nach einer Lebensarbeitszeit von so vielen Jahrzehnten ist das mehr als bitter.“

Die IG BAU fordert deshalb ein Rentenmodell, in dem jeder Beitragszahler nach 44 Jahren die volle Rente erhält – unabhängig vom Lebensalter. „Solange wird heute faktisch in fast keinem Beruf gearbeitet“, sagt Bönnemann. „Wenn das durchgehalten würde, wäre auch mehr Geld in den Rentenkassen sein.“

Über solche Pläne wird in Münteferings Arbeitsministerium schon lange nicht mehr diskutiert. „Natürlich gefällt einigen Berufsgruppen unser Modell nicht“, sagt Sprecher Peter Ziegler. „Es ist aber auch demographisch unumstößlich notwendig, dass in dieser Gesellschaft länger gearbeitet wird.“ Fünf bis sieben Milliarden Euro mehr in den Rentenkassen verspricht sich der Bundesarbeitsminister. Zu sagen, dass die Rente dann sicher ist, traut er sich aber nicht.

Salverio Ancora zertritt seine Zigarette mit dem Absatz und schultert die Schaufel. Emanuel Anane ist schon ins Loch geklettert. „Vielleicht sollte ich doch nach Ghana zurückgehen“, ruft er von unten. „Arm dran ist man hier auch.“ Ancoras Antwort geht im Dröhnen von Dieter Kriegers Bagger unter. 49 Jahre hat er dieses Geräusch jeden Tag gehört. Für Franz Müntefering zu kurz.