Die Identitäten des Raphaël Schlemilovitch

FRANKREICH 1 Mit einer Verzögerung von vier Jahrzehnten erscheint der junge Geniestreich des Patrick Modiano

Kollaborationsjude, Liebhaber von Eva Braun, Wiedergänger von Marcel Proust – alles ist zwielichtig

VON JOCHEN SCHIMMANG

Patrick Modiano kennen wir in Deutschland seit gut zwei Jahrzehnten als den Erzähler des Verschwindenden, des Flüchtigen und des Unbestimmten. Das Element, das in seinen Romanen oft eine bestimmende Rolle spielt, ist nicht zufällig der Äther. Immer wieder kreisen seine Bücher um zwei Zeiträume: die Jugend in den Sechzigerjahren und die Zeit unmittelbar vor der Geburt des Autors, die Jahre der deutschen Okkupation Frankreichs.

„Frühling neunzehnhundertsiebenundsechzig. Die Rasenflächen der Cité universitaire. Der Parc Montsouris. Zu Mittag kamen die Arbeiter der Snecma in das Café unten im Haus. Die Place des Peupliers in jenem Nachmittag im Juni, als ich erfuhr, dass mein erstes Buch angenommen worden war.“

Dieses erste Buch, von dem Patrick Modiano am Ende seines zuletzt auf Deutsch erschienenen Werks „Ein Stammbaum“ spricht, trägt den Titel „Place de l’Étoile“ und erschien in Frankreich 1968 bei Gallimard. Mehr als vierzig Jahre später liegt nun die deutsche Übersetzung vor, auch diesmal wieder von Elisabeth Edl, die längst die deutsche Stimme Modianos geworden ist und in ihren kenntnisreichen Nachworten seine Mittlerin im deutschen Sprachraum dazu. Auch „Place de l’Étoile“ ist ein ausführliches Nachwort beigegeben, und das ist hier besonders hilfreich. Modianos Debüt unterscheidet sich nämlich erheblich von jenen schwebenden, ätherischen Gebilden, die ihm – völlig zu Recht – auch in Deutschland eine kleine, aber treue Lesergemeinde eingetragen haben.

Raphaël Schlemilovitch heißt der Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans. Der Schlemihl ist bekanntlich in der ostjüdischen Kultur der sprichwörtliche Unglücksrabe und Pechvogel. Modianos Schlemilovitch erfindet sich sein Leben immer wieder neu. Er ist Snob und Kollaborationsjude, Mädchenhändler und École-normale-Absolvent, Liebhaber von Eva Braun und Gigolo und ein Wiedergänger von Marcel Proust. Im letzten Kapitel des Romans wird er in einem Israel, das von Nazideutschland kaum mehr zu unterscheiden ist, interniert und gefoltert. Das ist natürlich auch der Grund, warum dieser Roman erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint und seine Veröffentlichung selbst in Frankreich um ein Jahr verschoben wurde, denn zum eigentlich geplanten Veröffentlichungszeitpunkt führte Israel den Sechstagekrieg und Gallimard übte politische Rücksicht. Ganz am Ende liegt Schlemilovitch bei Dr. Freud auf der Couch, der ihm seinen jüdischen Selbsthass auszutreiben versucht.

In einer nie endenden Spirale werden in diesem Buch persiflierend und übertreibend sämtliche antisemitischen Klischees ausgebreitet, die es gibt. Gleich am Anfang etwa heißt es: „Außerdem stand mein Tun und Treiben im Gegensatz zu jenen Tugenden, die man bei den Franzosen pflegt: Zurückhaltung, Sparsamkeit, Arbeit. Von meinen orientalischen Vorfahren habe ich die schwarzen Augen, den Hang zu Exhibitionismus und Pomp, die chronische Faulheit.“ Zugleich taucht in Modianos Roman die gesamte literarische Kollaborateurszene der Okkupationszeit auf, von Céline über Drieu de la Rochelle bis zu Brasillach und dem konvertierten Juden Maurice Sachs. Das hat beim Erscheinen des Romans in Frankreich 1968 gewiss nicht nur Freude hervorgerufen, glaubte man damals doch noch, eigentlich habe sich das gesamte Land während der Jahre der deutschen Besetzung in der Résistance befunden. Auch die literarischen Helden der Nachkriegszeit sind in Modianos Panorama zu besichtigen, allen voran Sartre, dem ein erfundener Autor den Essay „Was ist Literatur?“ widmet. Der junge Modiano hatte offenbar unendlich viel gelesen und spielt mit den Früchten seiner Lektüre, indem er Titel persifliert, Autoren miteinander verschmilzt, ihnen neue Biografien erfindet und souverän die Zeitebenen wechselt. Selbst für gute Kenner der französischen Szene jener Zeit ist Elisabeth Edls Nachwort da unverzichtbar.

Modianos Buch ist ein postmoderner Roman avant la lettre. Seine Technik ist die des Kaleidoskops, und nicht zufällig ist Schlemilovitchs früh nach Amerika ausgewanderter Vater, der in diesem Buch auch seinen Auftritt hat, mit der Herstellung von Kaleidoskopen reich geworden. Da steckt vielleicht sogar ein Stück Wunschbiografie drin, wenn man bedenkt, dass Modianos Vater in der Okkupationszeit als untergetauchter Jude Schwarzmarktgeschäfte betrieb, die er auch nach dem Ende der Besetzung bis zu seinem endgültigen Verschwinden fortsetzte. Sosehr das Buch sich von den späteren Romanen unterscheidet, so sehr sind deren Grundstruktur und deren Motive in ihm doch schon angelegt: das ständige Irrlichtern zwischen realer Biografie und Fiktion. In einem Interview hat Modiano gestanden, dass ihn an der Zeit der Okkupation vor allem das Zwielichtige, Zweideutige, Unbestimmte anziehe, das alle seine Romane charakterisiert. Schlemilovitch ist natürlich nicht nur Schlemihl, sondern auch Ahasver, der ewige Reisende: „Verlassen Sie Frankreich so schnell wie möglich. Dieses Land hat Ihnen geschadet! Sie haben angefangen, Wurzeln zu schlagen. Vergessen Sie nicht, wir bilden die Internationale der Fakire und Propheten!“

Das Erstaunlichste an diesem Buch eines mit Literatur vollgestopften Einundzwanzigjährigen, der formal enorm viel riskiert, ist die Tatsache, dass der Roman nirgends abstürzt, ja nicht einmal unausgegorene Passagen aufweist. So etwas nennt man gemeinhin „frühe Meisterschaft“. Das war der Anfang eines Werks, das in der französischen Literatur der vergangenen vierzig Jahre einzigartig ist. Dass Modiano keiner der speziell in Frankreich so üppig wuchernden literarischen Modeströmungen angehörte, ist kein Zufall. Hier schreibt ein großer Solitär, der es sich hoffentlich nie in einem behaglichen Eckchen gemütlich machen wird.

Patrick Modiano: „Place de l’Étoile“. Aus dem Französischen von Elisabth Edl. Hanser Verlag, München 2010, 190 Seiten, 17,90 Euro