In ihrer Hütte an der Spree

HAUSBESUCH Er kam aus Polen, sie aus Italien. Er schlief im Park, sie im Zelt. Und dann war es Liebe

VON MARLENE GOETZ
(TEXT) UND STÉPHANE LELARGE (FOTOS)

Berlin-Kreuzberg, zu Hause bei Sebastian und Ilaria im Wohnprojekt „Free Cuvry“ direkt an der Spree.

Draußen: Hütten, Zelte, Tipis und Feuerplätze sind wild über das Gelände verstreut. Eine Brache, auf der BMW sein umstrittenes Denklabor namens „GuggenheimLab“ ansiedeln wollte, aber aus Angst vor Protesten lieber in den Prenzlauer Berg zog. Ungewiss, was nun mit dem Grundstück passiert („Im Frühling werden wir vielleicht einen neuen Wohnort finden müssen“). Auf der Rückseite des Gebäudes neben ihrer Hütte das berühmte Gemälde des Streetart-Künstlers Blu: Die Hände eines Mannes in Hemd und Krawatte sind mit einer goldenen Taschenuhr verkettet. Um die Hütte herum: alte Teppiche, Töpfe, improvisierte Pflanzenbeete, Bretter („Wir verwenden die Nägel wieder, die sind sonst so teuer“), diverse Holz- und Metallgegenstände, Plastikplanen, Einkaufswagen.

Drin: Die Hütte besteht aus einem Zimmer, das etwa zehn Quadratmeter groß ist. Auf dem Boden – direkt auf der Erde – liegen Teppiche. An der Wand ein Poster der „Venus“ von Botticelli, an deren Füßen ein toter, mit Öl verseuchter Vogel liegt, im Hintergrund eine Ölplattform. Eine alte Couch aus Kunstleder, gegenüber ein kleiner Holzofen mit einem Wasserkessel. Über dem Bett („Das hat jemand ins Camp gebracht: tolle Matratze! Aber jetzt ist hier kaum noch Platz“) hängt ein Wandteppich, der Hirsche in einer romantischen Landschaft darstellt, am Fußende ein Kleiderstapel. In den Regalen Bücher, ein kleiner goldener Buddha, Stoffblumen und Plastiktüten voller Kleinkram. „Wir haben auch eine Ratte“, sagt Sebastian, „sie lebt mit uns und wir sind Freunde: Sie beschützt die Hütte vor den vielen anderen Ratten hier.“ Die Bewohner des „Free Cuvry“ haben ein Plumpsklo eingerichtet, zum Duschen gehen sie in die Bürgerhilfe der Cuvrystraße nebenan.

Wer macht was? Die beiden sammeln Flaschen („Wir leben in den Tag hinein, das passt uns so“). Illaria jongliert manchmal an Ampeln und bittet um Spenden, „aber wenn man mit Feuer jongliert, dann kommt gleich die Polizei“. Im Sommer baut sie Gemüse in den Beeten der Brache an („Kräuter, Zucchinis, Gurken, Melonen und Tomaten, für uns und zum Verschenken“). „Wir hatten auch Gras angebaut, aber das hat dann jemand geklaut“, sagt Sebastian.

Wer denkt was? Die meiste Zeit verbringt das Pärchen damit, Baumaterialien für ihre Hütte zu suchen. „99 Prozent der Sachen finden wir irgendwo, meistens Sperrmüll“, sagt Sebastian. Ilaria: „Wir klauen nie, manchmal bringen uns auch Leute Zeug.“ Für Ilaria ist es sehr wichtig, sich geborgen zu fühlen. „Ich habe immer danach gesucht, eine Familie, ein Zuhause zu haben, aber es nie gehabt. Ich bin niemand, der gerne die ganze Zeit draußen rumsitzt, ich bin eher häuslich.“

Sebastian: Geboren in der polnischen Stadt Bielitz-Biala, in einer bürgerlichen Familie. Bevor er nach Deutschland kam, hat er dreizehn verschiedene Jobs gehabt, war Lkw-Fahrer, Bauarbeiter („Alles vom Boden bis zum Dach“), Make-up-Künstler und Finanzmanager („Frag mich eher, was ich noch nicht gemacht habe“). Mit 27 fing er an zu reisen: London, Amsterdam, Frankfurt. „In Berlin bin ich hängen geblieben, obwohl ich nur ein paar Wochen hier verbringen wollte.“ Sommer 2012, die erste Zeit hat er im Görlitzer Park unter freiem Himmel geschlafen (“Überhaupt nicht gefährlich!“), dann hat er Leute von „Free Cuvry“ kennengelernt. „Wenn es mir irgendwo gefällt, dann bleibe ich.“

Ilaria: Wird Illy genannt und kommt ursprünglich aus Venedig, aber sie zog mit ihrer Mutter mehrmals um. Erst nach Rom, dann wieder in den Norden Italiens „aufs Land“. In Mailand fing sie zwei Studiengänge an, Architektur und moderne Literatur, „aber ich habe sie nie zu Ende gebracht, vielleicht war ich noch zu jung“. Nachdem sie das Studium geschmissen hat, arbeitete sie in einer Textilfabrik, versuchte es erneut mit dem Studium, „aber ich hatte zu viel verpasst“. Sie eröffnete einen Klamottenladen, stiegt aber nach zwei Jahren und einem Streit mit ihren Geschäftspartnern aus. Als sie 2011 in Berlin ankommt, lebt sie in zwei Hausbesetzerprojekten: „Ich war enttäuscht, es ging nicht um alternative Politik und Kreativität, sondern um viel Hierarchie, ums Äußere.“ Immerhin habe sie dort „viele liebe Menschen“ kennengelernt und „tolle Erfahrungen“ gemacht, eine echte „ordentliche“ Wohnung konnte sie („weil ich Ausländerin bin und keine Arbeit habe“) nie finden.

Das erste Date: Ilaria saß an einem Sommertag vor der Bürgerhilfe in der Cuvrystraße und hat Gemüse verschenkt. Sebastian kam barfuß raus, seine Schuhe in der Hand, „da haben wir zum ersten Mal miteinander gesprochen und uns in die Augen gesehen“. Sebastian guckt seine Freundin verliebt an, während sie weitererzählt: „Er hat mich plötzlich umarmt, und dann ist er weggegangen, ohne seine Schuhe. Und ich bin ihm nachgelaufen.“ Sebastian: „Wie Cinderella!“ Ilaria, die damals auf der Brache in einem Zelt übernachtete, hat ihn immer öfter besucht, sich um ihn gekümmert, denn „es ging ihm nicht so gut. Und dann habe ich nie wieder im Zelt geschlafen.“ Sie lachen.

Hochzeit? Heiraten ist momentan nicht geplant, weil es „nur ein Papier ist“, sagt Sebastian. „Aber vielleicht eines Tages, wenn Illy es möchte.“ Sie lacht: „Für mich ist es gut, so wie es ist: Wenn ich mich über etwas beschwere, dann hört er nicht zu. Deswegen sind wir immer glücklich.“

Alltag: „Wir würden gerne früh aufstehen, wir lieben es – aber das schaffen wir nie“, sagt Ilaria. Morgens machen sie den Holzofen an, kochen darauf Kaffee und etwas zu essen. Am Wochenende, meistens sonntags („weil es keine Kontrollen in der S-Bahn gibt“) gehen sie, wie sie sagen, „einkaufen“: Sie suchen in Containern hinter Supermärkten nach entsorgten Speisen („alles legal“). Sebastian: „Dann haben wir für die ganze Woche genug Essen.“ Im Sommer fahren sie mit ihren Fahrrädern in den Wald oder zum See, doch zurzeit haben Ilaria und Sebastian ein Projekt: Seit ein paar Monaten bauen sie sich ein Wohnzimmer, suchen dafür Baumaterialien und werkeln täglich daran. Und wenn das Grundstück eines Tages geräumt wird? „Dann hatten wir einen schönen Winter, und die Erfahrung war es wert!“ (Ilaria).

Wie finden Sie Merkel? Sebastian und Ilaria leben außerhalb des Systems. „Ich glaube nicht an die Politik“, sagt Sebastian. „Es kommt nicht auf die Person an, die oben sitzt, denn das System funktioniert nicht.“ Ilaria hat sich verändert, sagt sie: „Früher dachte ich, dass es wichtig wäre, eine politische Meinung zu haben, aber nun habe ich keine Wohnung, keine Versicherung, keinen Job, kein Geld: Es gibt eben viel wichtigere Sachen, auf die ich mich jetzt konzentriere.“

Wann sind Sie glücklich? „Ich bin vom Charakter sowieso eher euphorisch“, sagt Ilaria. „Ganz besonders glücklich bin ich, wenn ich etwas Schönes auf der Straße finde.“ Auch für Sebastian ist die gemeinsame Hütte ein Grund, glücklich zu sein: „Wenn ich etwas im Haus fertiggebracht habe und es sieht gut aus. Und wenn es Illy gut geht!“

Nächstes Mal treffen wir Elke Vogt-Sauer in Tübingen. Wenn Sie auch einmal besucht werden möchten, schreiben Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de