Eine Art freundlicher Terror

Mit DDR-Faksimile-Ausweis in der Deutschen Kantine am Flughafen Tempelhof: Das Theaterstück „Westflug“ erzählt die Geschichte einer schweren Entscheidung zwischen Ost und West. Doch trotz der genauen Recherche fehlt den Figuren Tiefe

VON CHRISTIANE KÜHL

Am 30. August 1978 startet in Gdansk eine kleine Linienmaschine der LOT mit Ziel Berlin-Schönefeld, planmäßige Ankunft 9:55 Uhr. Gegen 9:30 Uhr dringt einer der Passagiere, ein Ostberliner Kellner, ins Bordbuffet ein, drückt einer Stewardess einen Revolver an den Hinterkopf und fordert die Umleitung der Maschine nach Berlin West. „We are under terror. Hijackers on board“, funkt der hilflose Kapitän nach Schönefeld; um 10:04 Uhr landet die Tupolew 134 in Tempelhof.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten einige der 62 Passagiere die Entführung nicht einmal registriert. Der Terror sollte für sie erst beginnen – eine Art „friendly terror“, nämlich die Möglichkeit, im Westen zu bleiben, und der Druck, diese Entscheidung völlig unvorbereitet zu treffen. Einen StasNachmittag lang wurden sie in der Deutschen Kantine mit Blick auf das Rollfeld von der amerikanischem Militärpolizei verhört, mit Pommes und Cola verköstigt und konnten ihr Leben mir nichts, dir nichts um 180 Grad drehen. Zwischen Heimat und Versprechen, Familie und Aufbruch, einem Leben, das man sich aufgebaut hatte, und auf der anderen Seite dem, was auf Ostberliner Stadtplänen stets weiß geblieben war. Aber was ist gut, was ist wichtig, und wie findest du die Antwort in fünf Stunden?

Der Flughafen als Nichtort und Transitraum ist natürlich eine perfekte Metapher für diese Situation. Dass die Gruppe Lunatiks um den Regisseur Tobias Rausch ihre Version der „Geschichte einer Entführung“ tatsächlich im Flughafen Tempelhof aufführen kann, ist da natürlich großartig. Jeweils 50 Zuschauer werden um 21 Uhr in der alten Haupthalle empfangen, fünf Minuten nachdem das letzte Flugzeug des Tages gelandet ist. Während die Passagiere aus Brüssel ihr Gepäck in Empfang nehmen, besteigen die Theaterbesucher einen Bus, der sie zur Kantine fährt. Zuvor erhalten alle am Abfertigungsschalter ein Faksimile eines DDR-Personalausweises mit ihrem eigenen Namen. Eine hübsche Idee, die aber schon auf ein Dilemma der Inszenierung verweist: Sie ist zu unentschieden zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen Präsentation und Psychologie.

Zur Vorbereitung der Inszenierung haben sich Rausch, Koregisseurin Manuela Lachmann und der Dramaturg Jan Linders durch Archive und Stasi-Unterlagen gearbeitet. Einige der damaligen Passagiere haben sie sogar zu Gesprächen getroffen und sich auch von ihrem Leben davor und danach erzählen lassen, sei es im Osten oder im Westen. Die Berichte hat das Trio zu sechs fiktiven Biografien verwoben. Das Stück, koproduziert von den Sophiensælen, verschneidet ihre Entscheidungsfindung am 30. August mit Rückblenden in die Brigade oder Vorblenden ins neue Westberliner Leben. Ab und zu brechen Auszüge aus Stasi-Akten oder Interviews mit der kapitalistischen Presse das lineare Geschehen.

Der Zuschauer verfolgt es in Cinemascope, da die extrem längliche Kantine, ausgestattet mit Papp-Elvis, Diner-Tischen und Neonreklamen, vor den breiten Fenstern bespielt wird. Leider bleiben jedoch auch die Figuren recht flach. Da ist die unbeugsame Brigadeführerin, die doch heimlich Heinz Ketchup schmuggelt; der Musiker, der der ästhetischen Mutlosigkeit des Orchesters Suhl, vor allem aber seiner Frau entfliehen will; der junge Draufgänger, den anscheinend gar nichts in der DDR hält. Sie alle plappern unablässig – dabei würde man denken und hoffen, dass zumindest mal einen Augenblick Stille herrscht. Und die Menschen Dinge mit sich ausmachen. Von der Panik, in die sie geraten sein müssen – nicht nur wegen der aktuellen Ost-West-Entscheidung, vor allem aus Angst, diese unter Umständen ein Leben lang zu bereuen –, spürt man wenig. Wer einfach Lust auf einen außergewöhnlichen Theaterabend am Flughafen hat, kann sich „Westflug“ trotzdem gut angucken – allerdings sind die Vorstellungen ausverkauft, und man kann nur auf nicht abgeholte Karten hoffen.

„Westflug“, 23. und 25.–30. Juli, 21 Uhr, im Flughafen Tempelhof