Gott ist kein Erbarmerchen

Später Spagat zwischen listiger Heiterkeit und bitterem Ernst: In seinen letzten Gedichten feiert Robert Gernhardt das Dasein, beschreibt hart das Entsetzen über den körperlichen Verfall, liefert aber auch noch einmal Jux und Nonsens

Ein Spagat ist eine gymnastische Übung und nicht unbedingt das, was man einem Sterbenden abverlangt. Für Robert Gernhardt hatte das Dichterische aber immer auch eine sportliche Komponente. Ihm lag an technischer Perfektion und an der Brillanz der Darbietung. Er war ein Künstler, der seine Geschmeidigkeit durch tägliches Training verfeinerte. Das ist auch in seinen letzten, posthum erschienenen Gedichten sichtbar. Sie vollführen noch einmal den Spagat zwischen listiger Heiterkeit und bitterem Ernst, der zu seiner lyrischen Grundhaltung geworden ist. „Standbein“ und „Spielbein“ hat er die beiden Abteilungen dieses Buches überschrieben. Sie stehen oder spielen auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Der vordere Klappentext stammt noch von Gernhardt selbst. Hinten wird dann sachlich gemeldet, dass er 2006 in Frankfurt am Main gestorben ist.

Sein Sterben dauerte lange. Schon die 2004 erschienenen „K-Gedichte“ handelten von K wie Krankheit oder Krebs. Jede Chemotherapie wurde ihm zur lyrischen Herausforderung. Dichtend wehrte er sich gegen den Schmerz und Vergänglichkeit. „Später Spagat“ setzt diesen Kampf fort. Hart und direkt beschreibt Gernhardt das Entsetzen über den körperlichen Verfall, schildert „Blut, Scheiß und Tränen“ – so der Titel eines Gedichts. Nichts wird beschönigt, aber gezielte Dosierungen von Sarkasmus und Humor sorgen dafür, diesen Prozess ins einigermaßen Erträgliche abzupuffern. Selbst die geliebte Toskana wird zur Kulisse auf dem Weg zum Klinikum in Valdarano: „Winde säuseln, Strahlen blitzen, bald werd ich am Gifttropf sitzen. // Hügel locken, Berge blauen, schon kann ich das Gifthaus schauen.“

Gernhardt ist ein Meister der Ironie, wie Heinrich Heine sie in die deutsche Dichtung eingeführt hat. Der romantische Sehnsuchtston, dem in diesem Gernhardt-Band die Gefahr sentimentalischer Selbstbemitleidung entspräche, kippt durch eine kühl kalkulierte, finale Pointe zuverlässig ins Komische. Das strenge Versmaß und der Reim, wie sie eigentlich nur im komischen Gedicht überdauert haben, bieten einen sicheren Halt gegen die Auflösung. Damit hat es wohl auch zu tun, wenn Gernhardt auch an sehr alte Formen anknüpft und Kirchenlieder von Paul Gerhardt variiert. „Geh aus mein Herz und suche Leid / in dieser lieben Sommerszeit / an deines Gottes Gaben. / Schau an der schönen Gifte Zier / und siehe, wie sie hier und mir / sich aufgereihet haben.“

Heine ist auf dem Sterbebett religiös geworden. Gernhardt hadert zwar mit seinem Gott, weigert sich aber, zu Kreuze zu kriechen. „Robert, ach du Armerchen“ reimt er auf „Gott ist kein Erbarmerchen“. Noch einmal an Paul Gerhardt angelehnt schreibt er: „O Robert hoch in Schulden / Vor Gott und vor der Welt / Was musst du noch erdulden / bevor dein Groschen fällt? / Durch Speien und durch Kotzen / Lässt der sich nichts abtrotzen / Der auch dein Feld bestellt.“ Gerade deshalb, weil er seine Krankheit allein und ohne metaphysischen Trost durchstehen muss, ist das fortgesetzte Schreiben so wichtig.

Bliebe es bei dabei, dann wäre solche konzentrierte Sterbe-Lyrik wohl nur schwer zu verkraften. Doch schon im ersten Teil, dem „Standbein“, gibt es eine Bewegung hin zum Alltag, zu Schönheitserlebnissen und zur Feier des Daseins. Eines der schönsten Gedichte handelt von einem jungen Mädchen an einem heißen Sommertag, die allerlei dummes Zeug vor sich hin plappert. Dieses Gedicht fällt auch dadurch aus dem Rahmen, dass es keine strenge Form und keinen Reim benötigt. Der Schmerz, sterben zu müssen, wird noch schärfer, wenn deutlich wird, was verloren geht, und welche Lust es ist, zu leben. Auch das steckt in diesen Gedichten.

In der zweiten Abteilung, dem „Spielbein“, demonstriert er seine Fingerfertigkeit mit Sprachspielen aller Art, Schüttelreimen, Vokaltauschereien, Juxereien bis hin zu reinen Nonsens-Gedichten. Die mögen im Kontext der Todesnähe der Ablenkung und der Verweigerung pathetischer Sinnfragen dienen. Doch auch unabhängig davon könnten einige davon durchaus in die Walhalla der komischen Dichtung eingehen. Ewigkeitsverdächtig sind die Variationen auf das von Schubert vertonte Lied von der Forelle, „in einem Bächlein helle“. Gernhardt macht daraus ein ökologisches Lehrgedicht: „In einem Flusse trübe / da treibt in fauler Ruh / die runzelige Rübe / vorüber wie ein Schuh.“

Eines der letzten Gedichte heißt „Wir Weltmeister“. In Sonettform geht es der Frage nach, warum wir Deutschen die WM gewinnen werden. Das Ende der WM hat Gernhardt nicht mehr erlebt. Das Sonett, warum wir es dann doch nicht geschafft haben, fehlt. Die Ärzte hatten ihm eine falsche Prognose gestellt. Sie gaben ihm noch einige Monate, als es nur noch ein paar Wochen waren. Die hat er genutzt, so gut es ging. JÖRG MAGENAU

Robert Gernhardt: „Später Spagat“. Gedichte, S. Fischer, 122 S., 16,90 €