Pastor verlässt den Knast

OSLEBSHAUSEN Nach 19 Jahren als Gefängnisseelsorger geht Hans-Dieter Ernsing in den Ruhestand. In einer „vom Unschuldswahn befallenen Gesellschaft“ sei das Thema Schuld für seine Arbeit am wichtigsten gewesen

In Deutschland sitzen über 70.000 Menschen in einem der 194 Gefängnisse.

Katholische und evangelische Kirche beschäftigen bundesweit jeweils 300 SeelsorgerInnen für Gefangene.

In der Bremer JVA Oslebshausen verbüßen 530 Menschen eine Haftstrafe oder Sicherungsverwahrung.

Seit 2006 töteten sich dort und im Bremer Polizeigewahrsam insgesamt sechs Gefangene aus Verzweiflung selbst, zuletzt im Juli 2009 ein 39-jähriger Untersuchungshäftling. (taz)

Er sei „wohl strafversetzt“ worden, hatte man vermutet, als der Pastoralreferent Hans-Dieter Ernsing vor elf Jahren seinen Dienst als Gefängnisseelsorger in der JVA Oslebshausen antrat. Aber als Strafversetzung habe er seine Aufgabe im Gefängnis nie betrachtet, sagt Ernsing. Im Gegenteil. Als er 1991 aus der Gemeindearbeit zunächst in die Gefängnisseelsorge Emden wechselte, habe er gemerkt: „Hier bin ich richtig.“

Fast 20 Jahre sollte der Dienst hinter Gefängnismauern am Ende dauern. Dies halte nur durch, wer „zuhören, mitleiden und Nein sagen kann“. Wer zu letzterem nicht im Stande sei, der werde „im Knast schnell ausgenommen“, sagt Ernsing.

Weil die ungestörte Religionsausübung ein Menschenrecht ist, kann im Gefängnis jeder, der will, einen Seelsorger treffen und an religiösen Veranstaltungen teilnehmen. Ernsing habe mit jedem gesprochen, egal ob Katholik, Protestant, Moslem oder Religionsloser.

Die meisten der Häftlinge hätten mit Kirche zunächst nicht viel anfangen können. Viele seien „kirchenfern“ gewesen, hätten aber trotzdem seine Begleitung gesucht. Dabei habe das Thema „Schuld“ eine zentrale Rolle gespielt. Ihm sei wichtig gewesen, „die Menschen mit ihrer Straftat zu konfrontieren“. Nur so sei Aufarbeitung möglich: „Unsere Gesellschaft ist von einem riesigen Unschuldswahn befallen. Kaum jemand ist bereit, Schuld einzugestehen und Verantwortung für seine Taten zu übernehmen.“

Unter diesen Umständen habe er zu „Umkehr und Wiedergutmachung“ ermutigen wollen. Als Erfolg habe Ernsing gewertet, wenn er „gemeinsam mit den Tätern einen Brief an die Opfer schreibt und der Täter sein Opfer um Verzeihung bittet“. Insgesamt würde „für die Opfer noch viel zu wenig getan“.

Enttäuschen habe er all jene müssen, „die nur materielle Zuwendungen“ von ihm erwarteten. „Wenn es keinen Kaffee oder Tabak gibt, reagieren einige schon gehässig. Einmal wurde ich sogar bespuckt“, sagt er.

Zwischen 20 und 40 Häftlinge seien zu seinen Gottesdiensten in der U-Haft-Kapelle gekommen, an Weihnachten deutlich mehr. Ernsing und sein evangelischer Kollege Pastor Peter-Michael Arenz haben sich dafür eingesetzt, dass beide Räume wieder renoviert wurden. Inhaftierte führten die Arbeiten aus. Über dem Altar hängt nun eine Christusfigur ohne Hände, die ein Häftling aus Stein gemeißelt hat. Nach den Gottesdiensten gibt es dort dann doch Kaffee, die Gefangenen können Tischfußball oder Billard spielen.

Drogenabhängige stellen mittlerweile die Mehrzahl unter den Gefangenen. Mit ihnen seien die Gespräche „schwierig.“

Drogenabhängige stellen mittlerweile die Mehrzahl unter den Gefangenen. Mit ihnen seien die Gespräche „schwierig“, sagt Ernsing. Wärter würden ihm hin und wieder einen Hinweis geben, dass ein Häftling womöglich seelsorglichen Beistand brauchen könne. Seine bewegendste Erfahrung sei die mehrjährige Begleitung eines Mannes gewesen, den er für unschuldig hält. Dass „der vielleicht solange unschuldig sitzt, ist mir sehr nahegegangen“.

Am Freitag wird Ernsing mit einem Gottesdienst in den Ruhestand verabschiedet. kgv/taz