Die Hartnäckige

„In meinem Kopf höre ich immer etwas. Eine Sinfonie, ein Zitat. Nur beim Gedanken an die Ausländer-behörde wird es sehr still in mir“

von WALTRAUD SCHWAB

Hee-Seon Jin soll Deutschland verlassen. Dabei nennt sie sich „wertkonservativ“. Das zeichne, so denkt sie, eine gute Deutsche doch aus. Christin ist sie dazu. Auch spricht sie rasend schnell Deutsch. Vor 24 Jahren kam sie nach Berlin. Später studiert sie in München und Wien. – Es reicht nicht, um erwünscht zu sein.

Jin ist Dirigentin. Richard Wagner, Ludwig van Beethoven, Gustav Mahler sind Komponisten, die sie verehrt. Partituren ihrer Opern hat sie im Kopf. „Zauberflöte“, „Figaros Hochzeit“, andere. In Gedanken kontrolliert sie riesige Orchester, entscheidet, wie ein Capriccioso, ein Forte oder Pizzicato gespielt wird. Geht’s um Musik, ist sie der Chef.

Ihre Gegner beeindruckt das kaum. Deren Chefs sitzen in Innenministerien und Ausländerbehörden. Wer am Ende die Oberhand hat, wird sich zeigen. Denn seit 1999 ist Jin in einen ungleichen Machtkampf verwickelt: Da diejenigen, die das Ausländerrecht auslegen. Dort die zierliche 40-Jährige, die Kompositionen interpretiert.

Die Verantwortlichen in den Ausländerbehörden Bayerns, Hessens und Berlins, wo sie derzeit wohnt, rechnen es Hee-Seon Jin als Manko an, dass sie die ersten 16 Jahre ihres Lebens in Seoul gelebt hat, dass ihre Eltern koreanisch sind. Koreanische Christen. Der Vater Germanistikprofessor dazu. Warum ihr vor sieben Jahren vom bayrischen Innenministerium mitgeteilt wurde, sie müsse Deutschland verlassen, wenn sie nicht binnen einer Woche eine Beschäftigung auf dirigentischem Sektor nachweisen kann, weiß sie nicht. Was sie weiß: dass die Odyssee sich nun schon Jahre hinzieht und ihr die Kraft raubt, zum Wesentlichen zu kommen: zur Musik.

Musik – bei diesem Wort entspannt sich Jin für eine Sekunde. „In meinem Kopf höre ich immer etwas. Eine Sinfonie von Mahler, ein Zitat aus einem Wagnerbrief, der Beginn des dritten Akt von ‚Tristan‘. – Nur beim Gedanken an die Ausländerbehörde wird es sehr sehr still in mir.“

Mit vier Jahren begann Jin, Klavier zu spielen. Wenig später kennt sie bereits ihren Berufswunsch: „Ich will Dirigentin werden.“ Beherzt betreibt sie ihren Plan. 1982 geht sie 16-jährig, gegen den Willen der Eltern, die sie dennoch bis heute finanziell unterstützen, nach Berlin. Dort besteht sie die Aufnahmeprüfung am Konservatorium des Julius-Stern-Instituts im Fach Klavier. Für die Hochschule der Künste war sie zu jung.

Drei Jahre später wechselt sie an die Musikhochschule München. Sie ist fürs Dirigentenstudium zugelassen. Zwei bis drei Studierende werden pro Semester angenommen. Während ihres Studium bleibt sie die einzige Frau unter Männern.

Nach ihrem Diplom 1993 zieht sie nach Wien, um weiter zu studieren. Nicht zufrieden mit ihren Lehrern dort, kehrt sie ein Jahr später nach München zurück. „Ich tausche nichts Schlechtes gegen etwas Gutes.“ Jetzt nimmt sie an der privat organisierten Meisterklasse von Sergiu Celibidache, Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker, teil. Für ambitionierte Dirigenten ist es üblich, sich bei der Weltelite weiterzubilden. Jin ist ambitioniert, wenngleich der Markt für Dirigenten eng ist. Für Dirigentinnen ist er noch enger. Ihren Ehrgeiz, sagt sie, stachle dies aber noch an.

Als die Ausländerbehörde in München sie damals, 1999, zum ersten Mal zur Ausreise auffordert, es sei denn, sie legt ein Engagement vor, findet sie eines am Staatstheater in Darmstadt. Nachdem der Vertrag ausläuft, fordern die hessischen Behörden sie auf, auszureisen, es sei denn, sie hat eine neue Beschäftigung. Ihr Pass allerdings wird mit einem Sperrvermerk versehen: „Erwerbstätigkeit nicht gestattet“. In diesem Teufelskreis bewegt sich Jin seither. Eine vielbegehrte Dirigierhospitanz bei Kent Nagano, dem Leiter des deutschen Symphonieorchesters Berlin, die ihr 2001 angeboten wird, kann sie ebenfalls nicht antreten. Jetzt legt ihr der Berliner Innensenator Ehrhardt Körting Steine in den Weg. Er lehnt ihren Aufenthalt ab.

Einmal allerdings hätte es beinahe ein Happy-End gegeben in Jins Leben. Sie verliebte sich in einen Deutschen und heiratet ihn 2003. Die Ehe scheitert. Nach eineinhalb Jahren ist sie geschieden. Nur drei Monate nach der Scheidung wird sie erneut zur Ausreise aufgefordert. Hätte die Ehe ein halbes Jahr länger gedauert, hätte sie bleiben können. „Ich missbrauche doch meine Gefühle nicht“, sagt sie.

Jin macht keine Kompromisse. Wer Dirigentin werden will, hat einen weiten Weg vor sich. Hindernisse müssen aus dem Weg geräumt werden. Diese Erkenntnis ist Teil ihres Lebens. Deshalb wohl verzichtet sie auf Halbheiten. „Halbheiten, was sind das?“, fragt sie. Na ja, wenn das Gesetz hart ist, seiner Härte entweichen. „Darum geht es nicht. Aber ich kann die Art und Weise, wie das Ausländergesetz angewandt wird, nicht nachvollziehen“, erklärt sie. Ob sie deshalb die Ausländerbehörde herausfordert? „Ich fordere sie nicht heraus. Vielmehr möchte ich menschlich behandelt werden. Eine Selbstverständlichkeit doch. Ich habe von Deutschland etwas bekommen – meine Ausbildung. Ich möchte Deutschland etwas zurückgeben – mein Können. Ich will hier willkommen sein. “

Willkommen nach dem Gesetz? Willkommen auf der Ausländerbehörde? Von allem, was über dieses Amt bekannt ist, passt „willkommen“ am wenigsten. Wie sonst ist der Satz von Ehrhart Körting zu verstehen: Es „scheint mir bei Frau Jin, bei allem Verständnis, ein Anspruchsdenken gegenüber dem Staat vorhanden zu sein, das etwas befremdet“. Er schreibt das in einem Brief 2004 an seinen Parteikollegen Hans-Jochen Vogel, der sich für sie einsetzte.

Aber Jin ist nicht gegen alle Widerstände Dirigentin geworden, hat bei Maestros studiert, um dann unerwünscht in Deutschland zu sein. „Deutschland, Kulturnation, Land der Dichter und Denker“, sagt sie. Wehmut und Härte schwingen mit. Vielleicht ist das deutsche Ausländerrecht die richtige Herausforderung für eine wie sie. „Nein“, korrigiert sie wieder. An der Stelle sollen die, die über ihre Geschichte schreiben, endlich die Perspektive wechseln: Nicht sie, sondern die deutsche Gesellschaft profitiert davon, wenn sie nicht klein beigibt. Denn die Ausländergesetzgebung widerspreche nicht nur Menschenrechtsprämissen, sie schädige auch das Ansehen des Landes.

Das Papier, das man Jin auf der Ausländerbehörde ausgehändigt hat, heißt „Fiktionsbescheinigung“. Welch ein Wort. Fiktion – Erdichtung, Trugbild, Luftschloss, Sinnestäuschung? Die Ausländerbehörde gibt Luftschlossbescheinigungen, Trugbilddokumente heraus.

Fiktionsbescheinigungen beinhalten eine Art Duldung. In der geduldeten Zeit, die die Betroffenen bleiben dürfen, prüft die Behörde, ob sie den Aufenthalt nicht doch erlauben kann. Der Flüchtlingsrat nennt es „einen Schwebezustand, der, wenn er sich länger hinzieht, nicht akzeptabel ist“. Jin selbst nennt es „Galgenfrist“. Am 12. September läuft ihre wieder einmal aus.

Oft werden ausländischen Studentinnen und Studenten Fiktionsbescheinigungen ausgehändigt, wenn sie nach der Abschlussprüfung nicht sofort eine Beschäftigung nachweisen können. Sie können damit meist noch ein paar Monate im Land bleiben, um, wenn es günstig läuft, eine Arbeit, die der Ausbildung entspricht, zu finden. Da jedoch meist der Pass einbehalten wird und im Ersatzdokument steht, dass nicht gearbeitet werden darf, ist die Aussicht, legal eine Arbeit zu finden, faktisch unmöglich.

Genau diese Unvereinbarkeit treibt Jin auf die Barrikaden. „Man wirft mir vor, ich versäumte es, eine Arbeit nachzuweisen. Dann soll man auch öffentlich sagen, dass man mir die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, verunmöglicht.“

Jin ist Einzelkämpferin. Eigensinn prägt. Sie entspricht nicht dem Opferbild, das Leute, die abgeschoben werden sollen, transportieren. Im Gegenteil: Durch ihre Argumentationsstärke und Hartnäckigkeit macht sie die Willkür der deutschen Ausländergesetzgebung öffentlich. Sie steht der staatlichen Macht gegenüber und behauptet sich in dieser Rolle allein.

Wieder widerspricht sie: „Ganz allein bin ich nicht. Ich habe Befürworter.“ Der ehemalige Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, und Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Bundestages, haben für sie gesprochen. Kardinal Sterzinsky dazu. Neuerdings steht Michael Gahler, ein EU-Abgeordneter der CDU, auf ihrer Unterstützerliste. Jins Fall nennt er einzigartig. Das stimmt, weil jedes Schicksal einzigartig ist. Er hat einen Brief an den Innenminister Wolfgang Schäuble geschrieben. Darin beklagt er, dass gegen Islamisten keine Handhabe gefunden werde, sie auszuweisen, wohl aber gegen eine, die die deutsche Kultur liebt. „Manchmal hilft es, wenn eine so hartnäckig ist wie sie“, meint er.

Ruhig und gefasst wirkt die Dirigentin. Es täuscht. Ihr Körper ist angespannt wie der einer Katze vor dem Sprung. Es könnte ja etwas falsch verstanden sein, was sie sagt. Jin sitzt in ihrem Wohnzimmer in Moabit. Eine Regalwand ist voller Partituren und Bücher. In einer anderen hat sie ihre CD-Sammlung klassischer Musik. Ein Porträt von Gustav Mahler hängt daneben. Dazu ein Fernseher, ein Sofabett, eine Gipsbüste von Beethoven, ein Stuhl, ein Tisch. Er hat eine Glasplatte, die von zwei Delphinen aus Bronze getragen wird. Metallisch eingefroren, sind sie dennoch das einzig Verspielte im Raum. Alles wirkt aufgeräumt. So, als könnten jederzeit weiße Tücher über die Möbel geworfen werden, um sie während einer langen Abwesenheit vor dem Berliner Staub zu schützen.