Seid umschlungen

PARTIZIPATION Wie Kunst Gemeinschaft stiftet: Die Ausstellung „A Gentil Carioca“ in der ifa-Galerie bringt eine Produzentengalerie aus Rio de Janeiro nach Berlin

Die bunten fröhlichen Girlanden, die sich auf chaotischen Wegen durch die ifa-Galerie ziehen, fallen zunächst gar nicht so sehr auf – bis sie sich am Ende als umso einprägsamer herausstellen. Denn sie geben der aktuellen Ausstellung „A Gentil Carioca“ ihr ganz eigenes spielerisches Gesicht. Die farbenfrohen Girlanden resultieren aus der „partizipatorischen Aktion“ des Künstlers João Modé. „Constelações“ besteht aus sternenförmigen, geometrischen Mustern, die sich als tausende von kleinen Aufklebern in zwei Kisten im Galerieraum finden – und der Bereitschaft der Besucher, diese Klebebildchen an Wand und Boden anzubringen.

Auf äußerst wirksame und gleichzeitig simple Weise setzen der Künstler und die Besucher damit das Anliegen der Schau symbolisch um, über die Kunstausstellung hinaus Kommunikationsplattform zu sein. „A Gentil Carioca“ ist nämlich ein Kunstraum im historischen Zentrum von Rio de Janeiro, den die KünstlerInnen Laura Lima, Márcio Botner und Ernesto Neto 2003 als Treffpunkt für den künstlerischen Erfahrungsaustausch und als Experimentierraum für neue künstlerische Formate gegründet haben. Jetzt ist er kurzzeitig nach Berlin übergesiedelt, im Rahmen der Ausstellungsreihe „connect“, mit der das ifa-Institut die verschiedenen Kunstszenen in Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa miteinander bekannt machen und produktiv vernetzen will.

Die Arbeiten der zehn Künstler – neben Modé und den Kunstraumgründern sind es Carlos Contente, Guga Ferraz, Jarba Lopes, Pedro Agilson, Paulo Nenflidio, Maria Nepomuceno und Alexandre Vogler – setzen sich zu einer gemeinsamen Skulptur zusammen, in der Paulo Nenfidios’ Mondroboter aus Rohrleitungen und Kabelbindern bestens mit Jarbas Lopes’ „De Graça“-Zelt aus reißfesten Plastikplanen harmoniert, neben dem wiederum Laura Lima ihren Stand mit den „New Costumes“ aufgeschlagen hat: Accessoires aus durchsichtigem Vinyl, die dem Körper ganz neue eigenwillige Formen verleihen, sobald man sie sich anzieht oder überstülpt. Ein Spiegel im Fenster der ifa-Galerie gibt darüber überraschende Auskunft.

Seid umschlungen, all ihr Gestelle, Fotos, Videos, Zeichnungen und Handarbeiten (wie die wundersamen, weichen Gebilde, die Maira Nepomucenos aus Pflanzenfaser- und Perlenschnüren fertigt), scheint sich Ernesto Neto gedacht zu haben und zieht deshalb ein orangefarbenes Seidenband durch die Rauminstallation. Es rahmt dann auch das riesige Schwarz-Weiß-Foto ein, das Guga Ferraz schon deshalb auf dem Boden anbringen musste, weil es in der Aufsicht von hinten einen vermeintlichen Delinquenten zeigt, wie er sich, die Hände im Nacken verschränkt, auf den Boden setzen und warten muss, bis die Polizei ihn abführt oder gehen lässt.

Der europäische Besucher macht – wenig verwunderlich – unwillkürlich bekannte brasilianische Künstler wie Lygia Clark, Lygia Pape (bei der Biennale von Venedig 2009) oder Hélio Oiticica zu seinen Kronzeugen beim Vergleichen und Einordnen. Deshalb fragen Beatriz Lemos, Felipe Scovino und Mario de Andrade, Kritiker und Autoren der Textskulptur genannten Einführung im Ausstellungskatalog zu Recht: „Warum ist Hélio Oiticica der geistige Kopf einer Marginalästhetik ‚Wir leben durch und aus dem Elend‘, die eine Vorstellungswelt von Schönheit, Widerspruch und Experimentierfreude nährt, ganz als würden die brasilianischen KünstlerInnen nur selbiges mögen oder ausschließlich davon leben? Warum ist Cildo Meireles der überragende Produzent einer typisch ‚lateinamerikanischen Konzeptkunst‘, warum kann er nicht einfach nur Künstler sein?“ Die Frage geht an uns. Also sollten wir das großzügige Angebot von „A Gentil Carioca“, unser Wissen zu erweitern, unbedingt annehmen. BRIGITTE WERNEBURG

■ Bis 10. Oktober, ifa-Galerie, Linienstr. 139/140, Di–So 14–19 Uhr, Veranstaltungsinfos: www.ifa.de