ZUM BEISPIEL DER KAMPF UM DIE RICHARDSBURG – EIN IM VERGANGENHEITSVERLAG ERSCHIENENES BUCH DOKUMENTIERT DEN AUFSTIEG DER NSDAP IN NEUKÖLLN
: Der Mordsturm in der roten Hochburg

VON JÖRG SUNDERMEIER

BERLIN AUF BLÄTTERN

Alle glauben zu wissen, was und wie die Nationalsozialisten wirklich waren, und alle glauben, alles zum Thema gelesen zu haben. Dennoch erscheint in jedem Jahr mindestens eine Hitler-Biografie und irgendjemand findet irgendwo noch Schriftstücke von Goebbels, Göring, Himmler und Röhm, die auch sofort publiziert werden.

Details über den Aufstieg der Nationalsozialisten aber werden verhältnismäßig selten präsentiert, angesichts der Monstrosität ihrer Verbrechen mag man, so scheint es, kaum mehr hinsehen auf die Anfänge der Bewegung, die ihre paramilitärischen Abteilungen auch gern mal als „Mordsturm“ titulierte. Vielleicht liegt dies auch an der Scham derer, die ahnen oder wissen, das Großmama und Großonkel einer der Parteiorganisationen angehörte, und das nicht erst seit 1933. Nun hat Bernd Kessinger ein kleines Büchlein vorgelegt, das sich der frühen Berliner NSDAP widmet. Es heißt sehr nüchtern „Die Nationalsozialisten in Berlin-Neukölln 1925–1933“, und es verbleibt streng im örtlichen und zeitlichen Rahmen. Nur wenn es unbedingt sein muss, verweist Kessinger darüber hinaus.

Genau dies ist der Vorteil seines Buches, denn was er feststellt, ist zugleich ernüchternd und erschreckend. Neukölln ist dabei ein besonders gut gewählter Ort, denn neben dem Wedding galt Neukölln – vor allem das Rollberg-Viertel – als festes Revier der Arbeiterparteien. Sozialdemokraten und Kommunisten betrieben hier Dutzende von Parteibüros und „Agitationslokalen“. Noch 1933, nachdem Hitler bereits zum Reichskanzler ernannt worden war, stimmten die Neuköllner mehrheitlich links, obschon die Wahlen bereits massiv und teilweise unter Gewaltanwendung manipuliert wurden.

Am Beispiel der Kämpfe rund um die sogenannte Richardsburg, einem Gebäudekomplex, der sich bis in den siebziger Jahren auf dem Gelände des Comenius-Gartens in der Richardstraße 35 befand, erläutert Kessinger anschaulich, dass es die Neuköllner SA nicht leicht mit der dortigen Arbeiterschaft hatte. Anfang der dreißiger Jahre hatte es Goebbels durch eine ausgeklügelte Medientaktik – unter anderem fortwährender „Straßenkampf“ – geschafft, die zuvor beinahe unbedeutende NSDAP in ganz Berlin zu etablieren. In Neukölln etwa versammelte sich die relativ kleine SA-Truppe des Bezirks weit entfernt vom Rollbergviertel hinter dem Neuköllner S-Bahnhof, aus Angst, von Kommunisten attackiert zu werden.

Anfang 1931 jedoch wollte die SA ein Exempel statuieren und etablierte in der Gaststätte Richardsburg ein „Sturmlokal“ – in ganz Berlin gab es zu dem Zeitpunkt über hundert solcher Einrichtungen. Der Gebäudekomplex, den man sich als Teil der dunklen Seite des Zille-„Milljöh“-Berlins vorstellen darf, war als „Kommunequartier“, als rote Hochburg also, verschrien. Ganz bewusst versuchte die SA hier Propaganda zu machen. Doch die Bewohner traten in Mieterstreik, es gab Demonstrationen vor dem Lokal, schließlich wurde bei einer Schießerei der Gastwirt getötet und der Ort unter Polizeischutz gestellt. 1932 wurde das Sturmlokal verboten, Kessinger vermutet, dass dies aufgrund der fortdauernden Gewalttätigkeit der SA-Leute erfolgte. Auch in anderen „roten“ Milieus gelang es der SA vor 1933 nicht, ihre Sturmlokale zu etablieren.

Anhand solcher Beispiele – so verfolgt Kessinger auch die Karriere des NS-Funktionärs Reinhold Muchow, der schließlich selbst den parteiinternen Auseinandersetzungen zum Opfer fiel – wird die Studie, die alle wissenschaftlichen Ansprüche erfüllt, zu einer anschaulichen Lektüre. Und sie macht klar, wie schwer und leicht zugleich der Aufstieg der NSDAP war.

■  Bernd Kessinger: „Die Nationalsozialisten in Berlin-Neukölln 1925–1933“. Vergangenheitsverlag, Berlin 2013, 184 S., 16,90 Euro

■  Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags