: „Die Mauer des Schweigens ist noch intakt“
Argentinien und der Vatikan haben Kriegsverbrechern bei der Flucht in den Süden geholfen, sagt der Publizist Uki Goñi. Präsident Perón hegte ideologische Sympathien für die Nazis – doch dieses Thema ist in Argentinien noch immer tabu
taz: Herr Goñi, Sie haben sich mit der Flucht deutscher Nazis nach Argentinien beschäftigt. Die Existenz einer Organisation ehemaliger SS-Angehöriger namens „Odessa“, die diese Flucht organisiert haben soll, wurde von Historikern bislang gerne ins Reich der Legende verwiesen. Ein Fehler?
Uki Goñi: Die Dokumente, auf denen mein Buch beruht, belegen klar, dass es eine von Präsident Juan Domingo Perón aufgebaute Fluchthilfeorganisation für Kriegsverbrecher gab, die vom Vatikan und den Alliierten in London und Washington gebilligt wurde. Im Jahr 1946 kam es zu einem Abkommen zwischen dem Vatikan und Argentinien über die Ankunft französischer Kriegsverbrecher, 1947 wurde diese Tür für Kroaten geöffnet, und 1948 waren die Deutschen und Österreicher dran – hierzu schloss Argentinien eine Abmachung mit der Schweiz.
Wie kamen Sie dazu, sich mit diesen so genannten Rattenlinien von Europa nach Argentinien zu beschäftigen?
Das Thema war ja kaum erforscht. Es gab Romane, wie Frederick Forsyths „Akte Odessa“, es gab Presseartikel über Hitlers angebliche U-Boot-Reise nach Patagonien, Erzählungen über die Ankunft vieler Goldbarren … Als Argentinier, der in den USA geboren ist und in Europa gelebt hat, konnte ich das Land mit der nötigen Distanz betrachten, unbeeindruckt von der Figur Peróns oder seiner Frau Evita. Dabei interessieren mich weder der Peronismus noch die Nazis besonders.
Was hat Sie dann dazu bewogen?
Während der Diktatur ab 1976 habe ich erlebt, wie das Schweigen eine Gesellschaft gefangen nehmen kann. Ich arbeitete für den englischsprachigen Buenos Aires Herald, die einzige Zeitung, die damals über die „Verschwundenen“ berichtete. Wir haben deren Mütter empfangen.
Ich erinnere mich gut, dass wir damals in der Redaktion sagten, so muss es 1939, 1941 in Berlin gewesen sein: Es passieren schreckliche Dinge, du weißt nicht genau, welche, aber du weißt, dass man nicht über sie reden darf. Irgendwann sagte ich mir, es kann doch kein Zufall sein, dass eine Gesellschaft, die Mengele, Eichmann und anderen Nazi-Kriegsverbrechern Asyl gab, später am eigenen Leib so einen Völkermord im Kleinen erlebt hat.
Wie wurde Ihr Buch in Argentinien aufgenommen?
Es hat ziemliches Aufsehen erregt. Es ist mir gelungen, eine Debatte über Schweigen und Komplizenschaft anzustoßen, wenn auch nicht so stark wie etwa in Italien. Besonders stolz bin ich darauf, dass die Regierung Kirchner letztes Jahr eine Geheimanweisung aus dem Jahr 1938 öffentlich widerrufen hat, durch die den Juden die Einreise verwehrt wurde.
Mein Großvater war während der Dreißiger- und Vierzigerjahre argentinischer Konsul in Wien, Genua und La Paz. Aus Erzählungen wusste ich von dieser Geheimorder, bei der Recherche bekam ich Zugang zu ihr, und als ich darüber schrieb, war sie noch ein Staatsgeheimnis.
Findet in Argentinien also ein Umdenken statt?
Die Gesellschaft ist schon viel weiter als die Politiker: Da gibt es nur einen kleinen Wandel, einen Generationenwechsel. Die Leute aus der Kirchner-Regierung sind über 40, 50 Jahre alt. Sie sind Peronisten, doch sie haben unsere schreckliche Diktatur miterlebt, sie sind daher eher bereit zu akzeptieren, dass die Uniform Peróns einen Flecken bekommt. Wenn die Generation der heute Dreißigjährigen ans Ruder kommt, werden wir eine noch realere Vision der Geschichte bekommen.
Warum geht das so langsam?
Es gibt diese schreckliche Wunde durch die „Verschwundenen“ der Siebziger- und Achtzigerjahre. Wenn du Nachbar Mengeles oder Eichmanns bist und dich machtlos fühlst, weil die Regierung diese Leute schützt, führt das zur Lähmung der demokratischen Reflexe. Später hat man sich an die Generäle Videla, Galtieri und die anderen gewöhnt.
Es gibt aber keine direkte Verbindung zwischen den Nazi-Sympathien Peróns und der Diktatur, oder?
Nein – es gab in Argentinien nichts Vergleichbares zu der Karriere von Klaus Barbie, dem SS-Verbrecher, der in Frankreich gewütet und in den Siebziger- und Achtzigerjahren unter Boliviens Kokain-Generälen eine Todesschwadron aufgebaut hat, die „Bräute des Todes“.
Aber in gewisser Weise war es in Argentinien noch schrecklicher. Gegenüber den US-Amerikanern hat Walter Schellenberg vom Sicherheitsdienst, dem SS-Geheimdienst, gesagt: „In Argentinien gab es eine Weltsicht, die unserer sehr ähnlich war.“ Das hat mit den Militärdiktaturen zu tun, die hier ab 1930 installiert wurden, den persönlichen Treffen argentinischer Agenten mit Ribbentrop und Himmler, was zu Geheimabkommen über die Nachkriegszeit führte.
Aber das Gesamtbild ist dennoch komplizierter …
Ja, denn es gab auch den Einfluss der belgischen und der französischen Kriegsverbrecher auf Perón und die hohen Militärs. Als ich Goebbels’ Privatsekretär Wilfred von Oven nach seinen Kontakten zu den argentinischen Nationalisten fragte, verzog er das Gesicht und sagte: „Sie sind Katholiken, wir sind Heiden.“
Die Belgier, Franzosen und Kroaten hatten dieses Problem nicht. Sie sympathisierten mit den Nazis, sie waren Antisemiten – aber eben Katholiken.
Welche Rolle spielte der Vatikan bei der Flucht?
Lange Zeit hatte man über die Rolle von Pius XII. bei der Fluchthilfe für die Kriegsverbrecher spekuliert. Im englischen Nationalarchiv in London habe ich die Korrespondenz zwischen der britischen Regierung und dem Vatikan über die kroatischen Kriegsverbrecher gesichtet, die in Italien waren. In einem Brief bittet der „Außenminister“ des Vatikans im Namens des Papstes die Alliierten, eine Reihe dieser Leute nicht an Jugoslawien auszuliefern. So wird die Verbindung zwischen dem Papst und den kroatischen Priestern klar, die die Fluchtrouten gemanagt haben. Eine weitere Schlüsselfigur war der österreichische Bischof Alois Hudal, der von Rom aus den Deutschen und Österreichern half.
War es schwer, einen Verlag für die deutsche Ausgabe Ihres Buchs zu finden? Immerhin ist das englische Original ja bereits 2002 erschienen.
Meine Agenten in London haben bei allen großen deutschen Verlagen angefragt, und alle haben das Buch abgelehnt. Jetzt hat es endlich geklappt. Seit dem Erscheinen bekomme ich viele Mails von Deutschen, deren Eltern oder Großeltern nach Argentinien geflüchtet sind und die mich fragen, wer ihre Verwandten sind. In diesen Fällen helfe ich, so gut ich kann, mit Dokumenten. Umgekehrt scannen sie Dokumente ein und schicken sie mir.
Gab es zuvor Reaktionen von deutschen Historikern?
Kaum. Generell gilt die These von der Fluchtorganisation noch nicht als erforscht genug, um allgemein akzeptiert zu werden. Meine Beziehungen in die USA sind viel intensiver als nach Deutschland oder Frankreich, wo es ebenfalls Widerstände gibt. Dort überwiegt das Unbehagen aufgrund der Vichy-Regierung und deren Rolle beim Holocaust. Und in Argentinien akzeptiert die akademische Welt überhaupt noch nicht, dass diese Themen objektiv erforscht werden. Hier ist die „Mauer des Schweigens“ noch intakt.
INTERVIEW: GERHARD DILGER
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