Paris kneift vor den Ultrarechten

FRANKREICH Die Regierung sagt jede weitere Debatte über eine Reform der Familienpolitik ab. Das kommt jetzt wie eine Kapitulation vor den erzreaktionären Kritikern daher

Die Regierung habe „dem Druck der Straße“ nachgegeben, meint „Libération“

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Angeblich aus Zeitgründen und um eine in der Gesellschaft umstrittene Reform besser vorzubereiten, hat die französische Regierung die für den Frühling geplante Debatte über die Familienpolitik abgesagt. Der eigentliche Anlass des taktischen Rückzugs ist ihre interne Uneinigkeit zum Thema der Invitro-Befruchtung. Seit einem Gesetz von 1994 haben in Frankreich nur heterosexuelle und nachweisbar stabile Paare Zugang zu dieser medizinischen Hilfe bei der Fortpflanzung (PMA). Bei der Frage, ob (nach der Legalisierung der Homo-Ehe) diese Technologien im Rahmen einer Reform auch für lesbische Paare oder alleinstehende Frauen erlaubt werden, gehen die Ansichten sehr auseinander.

Präsident François Hollande war in diesem Punkt seit je skeptisch und hat diese Forderung nie zu einem Wahlversprechen gemacht. Indem er aber den Ball an die Nationale Ethikkommission weiterspielte und sagte, er sei bereit, auch andere Meinungen und parlamentarische Vorstöße zu akzeptieren, schuf er zusätzlich Unklarheit. Zuletzt bekämpften sich verschiedene Minister hinter den Kulissen. Innenminister Manuel Valls ging am Montag vor die Medien und erklärte, bei der Debatte über das neue Familiengesetz lehne die Regierung jeden erweiterten Zugang zur PMA ab. Die Praxis der „Leihmütter“ werde ohnehin verboten bleiben. Damit schockierte Valls manche Parteigenossen. Der sozialistische Fraktionssprecher Bruno Le Roux wollte nicht auf „neue Rechte und Fortschritte“ verzichten. Doch Premierminister Jean-Marc Ayrault entschied zugunsten von Valls und für einen Verzicht auf die Debatte.

Dass diese Ankündigung am Tag nach einer großen Mobilisierung ultrakonservativer Demonstranten gegen diese Gesetzesrevision und allfällige Änderungsvorschläge erfolgte, verleiht der offiziellen Begründung mit Terminproblemen nicht gerade viel Glaubwürdigkeit. In den Medien ist von einem „Rückzieher“ oder gar einer „Kapitulation“ die Rede. Die 100.000 Demonstranten, die am Sonntag gegen die „familienfeindliche“ Regierung aufmarschiert waren, hätten über die Gesetzesvorlage triumphiert, schreibt Libération, die Regierung habe ganz offensichtlich „dem Druck der Straße“ nachgegeben: „Diese Niederlage ist ein Sieg für die Demonstranten vom Sonntag, für die Rechte und extreme Rechte, die bis zum Überdruss wiederholt, eine Familie bestehe (zwangsläufig) aus Papa und Mama, einem Mädchen in Rosa und einem Knaben in Hellblau.“ Die Sprecherin der Bewegung „La Manif pour tous“ gegen die Homo-Ehe, Ludovine de la Rochère, feierte gestern den Rückzug als einen „Sieg“ und kündigte bereits Aktionen gegen die Regierung zu „anderen Themen“ an, an denen es nicht mangle. Die radikalen homophoben Kreise fühlen sich ermutigt: Der Franzose Vincent Boileau-Autin, der im Mai 2013 mit seinem Lebenspartner die erste Homo-Ehe Frankreichs schloss, ist nach eigenen Angaben im Internet beleidigt und mit dem Tode bedroht worden.

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