In der Ukraine herrscht das Chaos

Frist zur Regierungsbildung verstreicht, doch ein Kabinett gibt es immer noch nicht. Parlamentspräsident kündigt Widerstand gegen mögliche Parlamentsauflösung an

BERLIN taz ■ Auch über vier Monate nach der Parlamentswahl warten die Ukrainer weiter auf eine neue Regierung. Am vergangenen Dienstag war eine in der Verfassung vorgesehene Zweimonatsfrist abgelaufen, innerhalb derer eine neue Regierung gebildet werden muss. Andernfalls kann der Staatspräsident das Parlament, die Werchowna Rada, auflösen. Doch Amtsinhaber Wiktor Juschtschenko hält sich noch bedeckt, ob er von diesem Recht Gebrauch machen will. Stattdessen traf er sich gestern mit dem Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU und dem Innenminister, um die Frage einer „angemessenen Kontrolle über die gesellschaftspolitische Situation im Lande“ zu erörtern.

Die Lage ist mehr als vertrackt. Mitte Juli hatte die im März siegreiche Partei der Regionen von Wiktor Janukowitsch, des früheren Regierungschefs und Widersachers Juschtschenkos bei den Präsidentenwahlen 2004, mit den Sozialisten und Kommunisten eine „Antikrisenkoalition“ gebildet. Janukowitsch, russophil und bei Wahlmanipulationen 2004 an vorderster Front, wurde für das Amt des Premiers vorgeschlagen. Möglich geworden war dieses Bündnis durch ein geschicktes Manöver des postenverliebten Sozialistenchefs Alexander Moros. Der hatte zunächst monatelang mit der Partei der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko BJUT und Juschtschenkos, Unsere Ukraine, über eine „orange Koalition“ verhandelt. Vor drei Wochen hatte Moros die Seiten gewechselt und sich mit den Stimmen seiner neuen Bündnispartner zum Parlamentspräsidenten wählen lassen. Am Dienstag fand der Obersozialist deutliche Worte, sollte Juschtschenko das Parlament auflösen. „Wenn ein illegales Dekret zur Auflösung erlassen wird, wird sich die Rada widersetzen“, kündigte Moros an.

Teile der Volksvertretung proben ohnehin schon den Aufstand. Abgeordnete der BJUT-Fraktion boykottieren aus Protest gegen die neue Koalition bereits seit Tagen die Parlamentssitzungen und wollen dies bis zu einer Entscheidung Juschtschenkos auch weiter tun, wie Timoschenko gestern ankündigte.

Die im September 2004 entlassene Regierungschefin hatte am Dienstag an Unsere Ukraine appelliert, sich dem Boykott anzuschließen, bislang erfolglos. Zwar hatte Unsere Ukraine angekündigt, in die Opposition gehen zu wollen. Gestern jedoch verhandelten Vertreter der Präsidententruppe, die bei Neuwahlen beste Chancen hätte, ihr Wahlergebnis von 13,9 Prozent noch zu unterbieten, wieder über eine Regierungsbeteiligung. Außerdem blockierten Anhänger von BJUT und der Partei der Regionen den Verkehr in der Nähe des Parlaments und mussten durch die Miliz voneinander getrennt werden. Rund 2.500 Janukowitsch-Anhänger, die teils mit Bussen aus den östlichen Regionen nach Kiew gekarrt worden waren, zogen für ihr Idol durch die Hauptstadt.

Derweil begutachtet Staatspräsident Juschtschenko die Kandidatur Janukowitschs für das Amt des Regierungschefs. Zeit dafür hat er bis zum 2. August, um dann die Kandidatur zur Abstimmung an das Parlament zurückzuweisen. Verfassungsrechtlich unklar ist jedoch, ob der Staatspräsident eine Kandidatur auch ablehnen kann.

Jetzt sei das Risiko einer Konterrevolution sehr hoch, da unter Juschtschenko revolutionäre Veränderungen ausgeblieben seien, bemerkte die Wochenzeitung Zerkalo Nedeli. „Dennoch gilt es eins anzuerkennen: Die Orangenen haben verloren.“

BARBARA OERTEL