: Ein bunter Kulturrausch in der Provence
FRANKREICH Die drei großen „A“-Festivals – in Aix-en-Provence, Arles und Avignon – bieten ein vielseitiges und fesselndes Feuerwerk von Spektakeln
■ Die Ausstellungen Rencontres d’Arles pour la Photographie in Arles sind noch bis zum 19. September 2010 zu sehen. www.rencontres-arles.com
■ Das Theaterfestival in Avignon (www.festival-avignon.com) und das Musikfestival in Aix-en-Provence (www.festival-aix.com) sind alljährlich im Juli.
■ Auf Arte sind einige Aufzeichnungen, zum Beispiel von Strawinskys „Le Rossignol et autres fables“ / „Die Nachtigall und andere Märchen“, verfügbar; www.arte.tv
■ In der Provence gibt es zahlreiche weitere Festivals – den kostenlosen Katalog „Terre de Festivals“ gibt es bei: CRT Provence-Alpes-Côte d’Azur, 61 La Canebière, 13231 Marseille, info@crt-paca.fr, häufig liegt er auch in den Fremdenverkehrsämtern der Region aus.
■ Die Anreise erfolgt am besten mit dem Zug. Avignon und Aix-en-Provence sind mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV direkt zu erreichen.
■ Infos über freie Zimmer gibt es bei den Fremdenverkehrsämtern: * Office de Tourisme D’Avignon, 41, cours Jean Jaures, 84004 Avignon, Tel. 00 33 (0) 32 74 36 54, www.avignon-tourisme.com * Office de Tourisme d’Arles, Boulevard des Lices, 13200 Arles, Tel. 00 33 (0) 4 90 18 41 20, www.arlestourisme.com * Offive de Tourisme d’Aix-en-Provence, 2, Général du Gaulle, 13605 Aix-en-Provence, Tel. 00 33 (0) 4 42 16 11 61, www.aixenprovencetourism.com
■ Übernachtungstipp: Hotel Le Calendal – 5 rue Porte de Laure, 13200 Arles, Tel. 04 90 96 05 84, www.lecalendal.com. Ein 3-Sterne-Hotel mit Flair, direkt an der Arena, sympathisches Personal, nach Art der Provençe eingerichtete Zimmer, schattiger Garten.
■ Lesetipp: Ines Mache, Stefan Brandenburg: „Provence“. Reise Know-How Verlag, 19,90 Euro
VON GUDRUN MANGOLD
Ein Paar in schwarzem Existenzialisten-Outfit gerät mit gedämpften Stimmen in Streit. Der Mann hat nicht bemerkt, dass eine gehbehinderte Person hinter ihm vorbeiwollte. Seine Frau hat ihn deshalb am Ärmel zur Seite gezogen und zurechtgewiesen. Das passt dem Mann nicht, er blafft zurück. Die Person mit Krücke, da hat er Recht, wäre auch ohne das Ausweichmanöver ganz gut an ihm vorbeigekommen. Die Gattin quittiert den Trotz ihres Partners mit strafendem Gouvernanten-Blick unter bis zum Anschlag hochgezogenen Brauen und zusammengepresstem Mund. Jetzt erst realisiert ihr Zögling, dass Menschen mit Handicap schon vorher eingelassen werden. Der distinguiert gekleidete Herr simuliert augenblicklich ein steifes Bein und hinkt in Richtung eines der Eingänge. Drum herum amüsiert man sich – na ja, bis auf eine vielleicht.
Die Szene spielt sich gegen 22 Uhr am Rand einer weitläufigen Absperrung ab, dahinter ziemlich genau zweitausend Menschen, die darauf warten, im Cour d’Honneur, dem Ehrenhof, ihre nummerierten Plätze einzunehmen.
Wir befinden uns mitten auf dem riesigen Platz vor dem Papstpalast in Avignon, wo das Theaterfestival offensichtlich sogar das Publikum zum spontanen Schauspiel animiert. Überall auf den Straßen, Plätzen und Bühnen der ehemaligen Papstresidenz an der südlichen Rhône wird gespielt, gesungen, getanzt, gelacht, gefeiert.
Zu den rund vierzig offiziell eingeladenen europäischen Ensembles, die ihre Stücke – vielfach Uraufführungen – hier präsentieren, gesellen sich rund dreitausend weitere freie ArtistInnen, die niemand eingeladen hat, die aber alle hochwillkommen sind. Traditionell eröffnen sie das Festival mit ihrer Parade durch die Innenstadt.
Seit 1947 lockt Avignon alljährlich mit diesem Gegenentwurf zur teils versnobten und verstaubten Theaterwelt der Metropolen. Die Philosophie der provenzalischen Uni-Stadt: Das Theater soll zum Volk kommen.
Und das tut es auch. Selbst, wenn man einfach nur essen geht, sich irgendwo hinter dem Palais du Pape einen kleinen, gedeckten Tisch im Schatten eines mächtigen Baumes sucht. Die GauklerInnen begegnen einem auf Schritt und Tritt, sie durchdringen jeden Winkel mit ihren Klängen, positionieren sich vor jedem noch so kleinen Restaurant, um ihre künstlerischen Kostproben darzubieten. Bevor sie weiterziehen durch die alten Gassen, um von dem nächsten Trüppchen abgelöst zu werden, huscht schnell noch einer durch die Reihen und verteilt dezent Kärtchen, wo und wann das jeweilige Stück in Gänze verfolgt werden kann.
Carine, die den kleinen Place de la Principale zwischen den hohen Hausfassaden gerade kraftvoll mit Liedern „de la Môme“, der großen Piaf, erfüllt hat, tritt also im kleinen Théâtre du Tremplin auf. Und Yves Noels Variation des Shakespeare’schen „Venus und Adonis“ findet man in der 13, rue de la croix – „Entrée gratuite, sortie payant“, Eintritt frei – wer geht, löhnt.
Gut dreißig Kilometer südlich von Avignon liegt Arles, wo sich der breite Fluss in die Kleine und die Große Rhône teilt, und wo 1970 das Fotofestival „Rencontres d’Arles“ gegründet wurde.
„Arles ist eine Stadt mit unabhängigem Geist, von ungeheurer Schönheit, eine verrückte Stadt“, schwärmt François Hebel. Seit 2001 leitet er das Festival und verwandelt die Hauptstadt der Camargue in eine Galerie mit Fenstern in die Welt.
Hebel entscheidet allein – weil so etwas eben nur allein gehe – und der Erfolg gibt ihm Recht. Der Pariser Art-Director hat die Besucherzahlen seit seiner Übernahme von 9.000 auf inzwischen 72.000 gesteigert. Und viele der Foto-Fans nehmen auch an den überall in der Altstadt verteilten Diskussionen und Workshops teil. Hebel sagt: „Die Leute mögen es zu lernen.“
In diesem Jahr führen sechs thematische Promenaden durch Ausstellungen rund um die römische Arena, deren weiße Quader in der Sonne leuchten. Einer der Spaziergänge heißt Promenade Rock. Der fetteste Fisch in diesem Fang von Hebel sind zweifellos die Bilder von Mick Jagger, aufgenommen von superben Profis und ausgestellt in großen Formaten.
Mick Jagger liebt es, in Pose zu gehen. Man darf ihm nahe kommen. Ihm in die Augen schauen. So wie den Stieren, die bei den Courses Camarguaises mit den jungen Männern der Stadt durch die Arena von Arles jagen. Lediglich winzige angesteckte Trophäen werden den schlanken Camargue-Stieren vom schwarzen Fell gezupft, danach geht’s wieder auf die sumpfigen Weiden.
Um Konfrontation geht es auch Leon Ferrari, der mit einer Retrospektive aus dem diesjährigen Gastland Argentinien nach Arles eingeladen wurde. Mitgebracht hat er aufmüpfige Objekte – ein großes, verschraubtes Einmachglas voller Präservative, außen aufgeklebt das lächelnde Gesicht von Papst Johannes Paul II. Ein Kruzifix, bei dem das Kreuz ein Kampfjet ist. Ein Schachbrett mit fünf lebensgroßen Rattenfiguren auf der einen Seite, ihnen gegenüber sechzehn kleine ratlose Katzen. Ein anderes mit einem riesigen roten Teufel, gegenüber eine Schar von winzigen Heiligenfigürchen. Sowohl Mick Jaggers Porträts als auch Leon Ferraris Fotos, Collagen und Objekte sind in ehemaligen Kirchen von Arles ausgestellt.
Aix, das dritte große A der Provence, etwa achtzig Kilometer östlich von Arles, feiert mit seinem „Festival international d’Art lyrique“ seit 1948 die Oper und klassische Musik. In diesem Jahr gehörten Mozarts Don Giovanni und Glucks Alceste zu den wichtigsten Aufführungen, die im Hof des erzbischöflichen Palais gezeigt wurden. Gigantisch schön die Darbietungen von Stravinskys „Le Rossignol et autres fables“, die im ausverkauften neuen Grand Théâtre de Provence mit stehenden Ovationen beantwortet wurden.
Kazushi Ono dirigierte das Opernorchester von Lyon über der spiegelnden Oberfläche des mit Wasser gefüllten Orchestergrabens – Aix, die Stadt des Wassers und der Kunst!
Mit Low Tech arbeitet Robert Lepage aus Toronto, der das Publikum mit seinem Konzept völlig in Bann schlägt. Stravinskys Musik zu „Renard“ illustriert Lepages Truppe mit uralter Theatertechnik. In nur mit Händen gebildeten Schattenspielen jagt ein Pferd über die Bühne, bedroht ein Fuchs den Harem eines Hahns, mischen ein Ziegenbock und eine Katze die Szene vollends auf. Dann sind es die ganzen Körper, deren Silhouetten weitererzählen.
Am unteren, hochgezogenen Rand der Leinwand sieht man die angestrahlten Beine der AkrobatInnen, Drauf- und Einblick zugleich.
Auch für „Le Rossignol“ greift der Kanadier auf eine traditionelle asiatische Kunstform zurück – prachtvoll kostümierte Wassermarionetten, die auf kleinen, von Laternen beleuchteten Booten über das Wasser ziehen, die Spieler selbst stehen brusttief im Nass. Über ihnen fliegt le rossignol, die Nachtigall, mit souveräner Leichtigkeit gesungen von Olga Peretyatko, die dafür ebenfalls stürmisch gefeiert wird.
So ist man mehr als entschädigt, sollte man etwa in Avignon in das eigens für das Festival zusammengemurkste „Papperlapapp“ von Christoph Marthaler geraten sein, der anscheinend nichts zu sagen hat. Ein Beichtstuhl voller Pin-ups, spontanes Kopulieren auf Kirchenbänken. Reißt das noch jemand vom Hocker? Ja! Viele haben sich während der zunächst vollbesetzten Aufführung im Cour d’Honneur polternd ins Freie geflüchtet, hinaus in die Straßencafés und zu den kleinen GauklerInnen.
Wie mag wohl irgendwo auf den Rängen die Diskussion zwischen einer schwarz gekleideten Frau und ihrem Mann im Partnerlook weitergegangen sein? Auch das wäre sicher amüsant gewesen weiter zu verfolgen. Vielleicht begegnet man sich wieder im Kulturrausch in der Provence.
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