„Was können diese Kinder dafür?“

„Der Mann kommt aus Deutschland zu Besuch in den Libanon. Eine Woche später fällt eine Rakete auf sein Haus“„Es ist schrecklich, was ich gesehen habe. Blut, abgetrennte Hände, Leichen. Packen wir, sonst sterben wir auch, sagte ich zu meiner Frau“

INTERVIEW MIRIAM BUNJES

In Nasser Zeaiters Wohnzimmer läuft der Fernseher. Al-Jazeera. Ein Wohnblock in Beirut stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Die Kamera schwenkt auf einen toten kleinen Jungen. Dazu spielt Marschmusik.Nasser Zeaiter: Sehen Sie das, Sehen Sie das? Wenn Sie diese Sendungen sehen, nur für zwei Stunden, dann fallen Sie um vor Entsetzen. Dieses Elend. Das zeigen die sonst nirgendwo. Ich kenne viele Journalisten im Libanon, auch von westlichen Sendern. Die schicken stundenlanges Bildmaterial über den Krieg in ihre Heimatländer, schreiben seitenweise die Ereignisse auf. Und was senden die Medien hierzulande? Ganz kurz etwas über den Krieg und im Rest der sowieso kurzen Beiträge geht es dann darum, wie die Leute ausgeflogen werden.

taz: Sie würden lieber Bilder vom Krieg sehen?

Ich möchte keine Bilder von Leichen sehen. Ich möchte nur, dass die ganze Welt mitbekommt, was im Libanon abgeht. Es kämpfen hier nicht Armee gegen Armee. Bis jetzt habe ich von keiner Stellung der Hisbollah gehört, die bombardiert wurde, von keiner. Also was bombardieren sie? Zivilisten. Und die Welt schweigt. Was Israel im Moment betreibt – gut, ich kann das verstehen: Sie haben Krieg mit der Hisbollah. Dann sollen sie auch diesen Krieg führen. Gegen die Hisbollah, nicht gegen Zivilisten. Was können diese Kinder dafür?

Sie kommen gerade aus dem Libanon.

Ich bin vor ein paar Tagen nach Hause gekommen. Sommerurlaub mit Frau und Kindern – das wollte ich dort machen. Und was ist aus dem Urlaub geworden...

Sie wollten Ihre Familie besuchen?

Unter anderem. Ich wollte mit meinem besten Freund Mustafa Khachab und seiner Familie in den Südlibanon fahren. Ansonsten wollte ich meine Mutter und meinen Bruder besuchen.

Ihrem Freund und seiner Familie hat dieser Ausflug in den Südlibanon das Leben gekostet. War es nur Zufall, dass Sie nicht dabei waren?

Wir waren schon ein paar Tage vor ihnen in Beirut. Eigentlich wohnten die Khachabs dort bei Mustafas Schwester. Sie wollten nur für vier Tage ins Dorf Schoher unten im Süden. Wegen einer Beerdigungsfeier hat er sich spontan entschieden, doch noch zu bleiben. Zwei Tage später ging die Bombardierung los. Das Entsetzliche ist: Der erste Schlag im Libanon ging gegen ihn. Der Mann hat mit Politik überhaupt nichts zu tun. Das ist er (zeigt auf mehrere gerahmte Fotos von zwei Kindern mit ihren Eltern). Wir haben einen Trauermarsch für sie organisiert. Was darüber in den Lokalzeitungen stand, da habe ich kein Verständnis für.

Was stand denn da?

Ein paar Leute haben auf diesem Trauermarsch etwas gegen Israel gerufen. Das war dann das Hauptthema im Artikel. Was mit der Familie passiert ist, wurde in ein paar Sätzen abgefertigt. Ich fand diese Schreierei auch nicht richtig – das sollte schließlich ein Trauermarsch werden. So ist die Wahrheit des Krieges wieder in den Hintergrund getreten.

Gab es Hisbollah-Leute in Mustafas Dorf?

Nein, dort hängen sie der Amal-Bewegung an. Er wohnte auch nicht am Rande des Dorfes, er wohnte mitten drin. Und dann trifft es ausgerechnet ihn. Der Mann kommt aus Deutschland zu Besuch in den Libanon. Er ist eine Woche da, dann fällt eine Bombe auf sein Haus. Da wohnte ein alter Vater, über 70 Jahre alt, eine unverheiratete Schwester und im Sommer eben er mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn.

Der hat ja als einziger überlebt. Wie geht es ihm?

Körperlich einigermaßen. Ahmad wird bald am Arm operiert, da ist ein Nerv verletzt. Er kann aber nicht schlafen, obwohl sie ihm Schlafmittel geben. Wenn ich mit den Kindern da bin, dann spielt er. Aber er redet mit niemanden über seine Eltern. Bis zur Explosion spricht er über alles, über alles danach: Schweigen.

Sie fliehen jetzt zum zweiten Mal vor einem Krieg.

Ich bin 1984 mit 19 aus dem Libanon gekommen, sowie Mustafa auch. Wir haben uns hier in Gladbach kennengelernt. Im Libanon wurde gerade die Wehrpflicht eingeführt. Ich bin sieben Tage nach dem Stichtag geboren. Also musste ich zur Armee. Morgens früh zogen dort die israelischen Soldaten an uns vorbei und machten Fotos. Das hat mir solche Angst gemacht, dass ich abgehauen bin. Dann ist unser Haus bombardiert worden, ich wurde verletzt. Da entschied ich, nach Deutschland zu fliehen.

Jetzt sind Sie im Libanon nur noch Besucher. Wie lief ihr Urlaub dieses Jahr ab?

Wir waren erst in Baalbeck im Osten. Meine Familie lebt in Stura, das ist zwischen Baalbeck und Damaskus. Als dort die Straßen bombardiert wurden, sind wir nach Syrien geflohen.

Haben Sie im Libanon über das Radio erfahren, wo was bombardiert wird?

Radio, Fernsehen. Ich habe auch die ganze Zeit mit Freunden telefoniert, um zu wissen, ob sie überhaupt noch leben.

Was haben Sie dabei für ein Bild von dem Krieg bekommen?

So einen Krieg hat die Welt noch nicht gesehen. Sie werfen Phosphorbomben, habe ich von Beiruter Ärzten gehört. Es gibt ganz neue Waffen. Die Haut ist schwarz, es sind aber keine Verbrennungen darunter. Die Ärzte hatten so etwas noch nie gesehen. Darüber berichten die deutschen Medien einfach nicht.

Warum nicht?

Ich vermute, dass Israel ein Tabu-Thema ist. Für Deutschland und den ganzen Westen. Dabei sterben hier Menschen, unbewaffnete Menschen.

Weiß eigentlich jeder im Libanon, wo Hisbollah-Leute wohnen?

Ich weiß das für meine Heimatregion schon, sie leben ja nicht im Untergrund.

Wie stehen die Menschen im Libanon zur Hisbollah?

Im Moment stehen alle zusammen. Auch Leute, die Hisbollah eigentlich hassen, haben jetzt Verständnis dafür, dass sie sich immer geweigert haben, ihre Waffen abzugeben. Wie viele müssen noch sterben? Das fragen sich die Menschen. Die meisten können ja auch nicht weg. Nur wer Geld hat, kann fliehen. Wir haben für die Busfahrt zur syrischen Grenze 350 Dollar bezahlt, normal sind 15.

Wie viel vom Krieg haben Sie gesehen?

Direkt hinter unserem Haus ist ein Krankenhaus. Es ist schrecklich, was ich gesehen habe. Blut, abgetrennte Hände, Leichen. Ich habe zu meiner Frau gesagt, packen wir, sonst sterben wir auch.

Und Ihre Kinder, wie viel haben die mitgekriegt?

Erzähl mal, Joni.

Joni Zeaiter (8): Wir waren ganz viel in der Wohnung, meine Brüder und ich. Vom Balkon aus haben wir gesehen, dass die ganze Stadt kaputt ist. Dann hat es einmal um drei Uhr nachts ganz laut geknallt und da hat Papa mit uns die Sachen gepackt und wir sind ins Dorf gegangen. Papa hat gesagt, da werden wir nicht beschossen, weil es da nichts Wichtiges gibt.

Hast du Angst gehabt?

Also, ich hab schon Angst gehabt, aber nicht so viel wie meine Mama und meine Brüder.

Nasser Zeaiter: Wir wissen nicht, wer als nächster dran ist, meine Mutter, mein Bruder. Das beunruhigt auch die Kinder. Noch lebt meine Mutter. Wir leben mit dem Gefühl: Wann passiert es? Es kann ja wirklich jeden treffen.

Was geschieht nun mit dem Sohn Ihres Freundes?

Gestern war ich mit seinem Onkel beim Jugendamt. Achmad wird erstmal bei seinem Onkel bleiben, wenn er aus dem Krankenhaus kommt. Heute gehe ich auch zum Steuerberater und zum Amtsgericht, um alles irgendwie so gut wie möglich für ihn aufzulösen.

Und wie geht Ihr Leben weiter?

Mit 24 Stunden Fernsehen am Tag und vielen angstvollen Telefonaten in den Libanon.

Libanesisches Fernsehen?

Sicher. Die deutschen Medien sind mir zu schüchtern – bei allem was Israel betrifft. Ich habe erst vor kurzem einen Fernsehbeitrag gesehen, in dem Bilder und Text einfach nicht zusammenpassten. Ein palästinensischer Mann versteckt sich mit seinem kleinen Sohn vor israelischen Soldaten hinter einem Holzstamm. Er ist unbewaffnet, aber die Soldaten erschießen das Kind. Warum muss man das vorsichtig kommentieren?

Wie geht der Krieg weiter?

Das ist ja kein wirklicher Libanon-Konflikt. Es ist der Konflikt der mächtigen großen Länder, der Krieg der USA gegen den Iran. Gewinnt Israel gegen die Hisbollah, geht der nächste Schritt nach Syrien – und schon ist der Iran isoliert. Hat Israel keinen Erfolg, dann ist der Iran noch mächtiger. Was haben wir, die Zivilisten im Libanon, damit zu tun?