Ausflug in den Frieden

Post aus Nahost (2): Ron Kehrman über seinen Besuch in Tel Aviv, kostenlosen Kaffee und die „Raketenrealität“

Schalom, liebe Freunde!

Es ist Freitagnacht in Haifa. Freitage sind immer still, aber dieser ist besonders ruhig. So lautlos, dass sie in den Ohren pfeift.

Die meisten meiner Nachbarn sind nicht zu Hause. Der „offizielle“ Grund dafür sind die Sommerferien, der eigentliche Grund – ist der Krieg. In den letzten Tagen wurde Haifa von so vielen Raketen getroffen, dass ich mit dem Zählen nicht mehr mitkomme. Raketen zerstören eine Stadt vielleicht nicht, aber sie vertreiben effizient ihre Bewohner, und sei es auch nur für kurze Zeit. Ich wollte Haifa nicht verlassen, aber ich hatte gestern einen Termin in Tel Aviv.

Auf der Strecke von etwa 100 Kilometern wurde der Verkehr immer dichter, je näher wir der Stadt kamen, und bald standen meine Frau und ich sogar im Stau – das erste Mal seit Wochen. Als ich aus dem Parkhaus trat, kam ich mir vor wie ein Landbewohner bei seinem ersten Stadtbesuch. Die Leute waren mit ihrem Alltag beschäftigt, beschäftigt mit ihren alltäglichen Problemen. Niemand in Tel Aviv scheint an den „hohen“ Norden von Israel zu denken, die Geschäfte waren voller Kunden, die Straßen voller Fußgänger, und beim Überqueren der Straße musste ich tatsächlich auf den Verkehr achten.

Mittags traf ich in einem voll besetzten Restaurant meinen Nachbarn aus Haifa. Mir war es irgendwie wichtig, ihm zu sagen, dass mein Besuch in Tel Aviv schon länger geplant war, dass es nicht wie Flucht aussieht. Als der Wirt mitbekam, dass wir aus dem Kriegsgebiet kommen, spendierte er uns einen Kaffee. Eine kleine Geste nur, aber auch ein Zeichen der Unterstützung, die ich nicht erwartet hatte und mich tief bewegt.

Das einzige Anzeichen für eine gesteigerte Spannung in Tel Aviv sind die vielen Polizisten auf der Straße. Es heißt, vor ein paar Tagen seien Selbstmordattentäter auf dem Weg in die Stadt abgefangen worden.

Vor unserer Heimreise trafen wir meinen Sohn, Dror, in einer sehr hektischen Shopping Mall. Er fand es unerträglich, dazu gezwungen zu sein, seine Sommertage zu Hause in seinem Zimmer in Haifa zu verbringen – zumal alle seine Freunde die Stadt längst verlassen hatten. Deshalb ist er nach Tel Aviv gefahren, eigentlich „für ein paar Tage“ nur, und nun ist es schon ein paar Wochen her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe. Nun ist er wegen des Krieges nach Übersee eingeladen worden, in ein Ferienlager, und wird erst Ende August zurückkommen. Deshalb haben wir uns anständig von ihm verabschiedet und seinen Geburtstag vorgefeiert.

Auf dem Heimweg herrschte reger Verkehr, als hätten die Leute langsam ihren Frieden damit gemacht, im Krieg zu leben. Militär und Regierung haben erklärt, dass es noch eine Weile dauern könnte, bis eine Lösung diesen neuen „Lifestyle“ wieder beendet. Die Leute wollen Normalität, denn es ist auch für „moderne Flüchtlinge“ hart, so lange von der Arbeit und dem Zuhause getrennt zu sein. Also fahren viele frühzeitig heim in die aktuelle Raketenrealität.

In Tel Aviv gab es keine Sirenen, keine Raketen, nicht einmal die Nachrichten habe ich verfolgt. Im Autoradio hieß es dann, Haifa sei erneut vor Raketen gewarnt, aber nicht getroffen worden. Vor der Haustür frage ich mich, wie es um die mir unbekannte libanesische Autorin bestellt ist … ob sie auch, wie wir, für ein paar Stunden einfach dem Krieg entfliehen kann? Es ist Freitagabend in Haifa, Freitage sind ruhig – besonders während des Krieges.

Ron Kehrman schreibt im Wechsel mit Iman Humaidan Junis aus dem Kriegsgebiet. Wegen technischer Schwierigkeiten erscheint ihre erste Post aus Beirut erst morgen. Übersetzung: FRA