Wir Oldies rocken noch!

ALT GEGEN JUNG Rebecca Harms ist erneut Frontfrau der deutschen Grünen im Europawahlkampf. Nachwuchsstar Ska Keller landete nur auf Platz 3 der Europaliste

AUS DRESDEN ASTRID GEISLER

Da liegen sie sich in den Armen. Jürgen Trittin, nicht für Gefühlsausbrüche bekannt, herzt die Siegerin. Und Renate Künast streckt aufgekratzt ihre Daumen hoch, während schon die nächsten Grünen-Promis mit Blümchen zum Glückwunsch-Defilee antreten. Das Duell Alt gegen Jung, dem die Grünen seit Tagen entgegenfiebern, ist entschieden: Rebecca Harms, 57 Jahre, führt die Grünen zum dritten Mal als Spitzenkandidatin in den Europawahlkampf.

Gemessen an dem Nervenkitzel vor der Kampfabstimmung fiel das Ergebnis beim Europaparteitag in Dresden überraschend klar aus: 65 Prozent der Delegierten stimmten für die Anti-Atom-Veteranin, nur 33 Prozent für die junge Konkurrentin Ska Keller, Gewinnerin der europaweiten Online-Urwahl „Green Primary“ und seither Spitzenkandidatin der Europa-Grünen. Der grüne Internet-Nachwuchsstar blieb im Parteitags-Reallife chancenlos gegen die 25 Jahre ältere Fraktionschefin im Europaparlament.

Bei der Frage Harms oder Keller ging es nicht um eine inhaltliche Richtungsentscheidung. Was zur Debatte stand war die Frage: Reicht’s nicht mal mit dem Generationswechsel? Trittin, Künast, die ehemalige Parteichefin Claudia Roth – sie alle wurden nach der Bundestagswahl aus ihren Ämtern gejagt. Nun richtete sich die Kampfansage des Nachwuchses gegen die Europafraktionschefin Rebecca Harms.

Je näher die Abstimmung um den ersten Listenplatz rückte, desto zögerlicher waren Partei-Promis mit Prognosen geworden. Der Parteivorstand verständigte sich vorsorglich auf die Formulierung, mit allen möglichen Spitzenduos einen tollen Wahlkampf führen zu können. Das Alt-gegen-Jung-Gefecht wurde höflich in „Erfahrung“ versus „Erneuerung“ übersetzt.

Schon 2009 war Ska Keller mit dem Wahlkampfslogan „Nicht nur Opa für Europa“ ins EU-Parlament eingezogen. Seither spielte sie ihre Jugendlichkeit gekonnt als Trumpf aus. Eine zierliche Person mit dunkler Kurzhaarfrisur, gebürtige Brandenburgerin, studierte Islamwissenschaftlerin, versiert in sechs Sprachen, verheiratet mit einem Finnen, permanent im Pendelverkehr zwischen Straßburg, Brüssel, Berlin, ihrem Heimatort Guben und dem Bürgerbüro in Halle.

Sie wolle David McAllister, den 43 Jahre alten CDU-Spitzenmann für die Europawahl, „alt aussehen lassen“, versprach die 32-Jährige in ihrer Bewerbungsrede. Doch tatsächlich ließ die gestandene Europapolitikerin Harms ihre Gegenspielerin als blasse Anfängerin dastehen. Keller trat professionell auf, aber nicht brillant. Zu wenig für den Putsch.

Wie auf der Achterbahn

Der dritte Listenplatz, auf dem sie schließlich landete, war für die Europaabgeordnete keine Katastrophe. Für Rebecca Harms aber ging es um viel – um sehr viel. Sie durchlebe „Gefühle wie auf der Achterbahn“, sagte sie kurz vor dem Votum. Hätte die Fraktionschefin bei einer Klatsche in Dresden überhaupt noch ihre Führungsposition in Straßburg beanspruchen können?

So kämpfte sie also. Viele Weggefährten erkannten Harms in Dresden kaum wieder. Bekannt für tranige Auftritte, redete sie die Delegierten aus den Sitzen. Ihre Kernbotschaft platzierte sie am Schluss der Rede. „Mir ist sehr bewusst, dass ich weit über 30 bin“, warf sie den jubelnden Delegierten zu. „Aber ich bin immer noch die Gorleben-Aktivistin, ich will immer noch die Welt verändern.“ Und alle wussten, was gemeint war: Jung ist nicht automatisch besser. Wir Oldies, wir rocken noch!

Gerne versichern dieser Tage die neuen Führungskräfte der Grünen in Fraktion und Partei, der Generationswechsel nach der Bundestagswahl sei inzwischen gut verarbeitet. Doch im Gerangel um die Spitzenplätze bei der Europawahl wurde in Dresden auch die eine oder andere offene Rechnung beglichen. Zu spüren bekam das vor allem der Chef der europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, 61 Jahre. In der Partei kursieren viele Anekdoten über die wechselseitige Abneigung von Bütikofer und Harms. Nach der Bundestagswahl hatte er als erster Partei-Promi öffentlich Trittins Rücktritt gefordert. Auch Künast dürfte sich noch erinnern, wie Bütikofer sie 2011 nach ihrem Wahlflop in Berlin abkanzelte.

Der Chef der europäischen Grünen hatte sich eigentlich im Spitzenduo für die Europawahl gesehen. Doch beim Parteitag bekam Bütikofer dürren Applaus, ein mageres Ergebnis, er wirkte angegriffen, reist ab mit Listenplatz vier. Auf Platz zwei neben Harms rückte der Quereinsteiger Sven Giegold vor. Der ehemalige Attac-Aktivist, erst seit 2008 bei den Grünen, seit 2009 als Finanzexperte im Europaparlament, gewann den Spitzenplatz mit beachtlichen 91 Prozent der Stimmen. Eine Kampfkandidatur gegen den 44-jährigen Herausforderer hatte Bütikofer vorsorglich abgesagt.

Denn ihm heften die Grünen nun die verkorkste Online-Urwahl an, die er als Chef der EU-Grünen in 28 Ländern Europas initiiert hatte – zwar mit ausdrücklicher Zustimmung der deutschen Grünen, aber davon war in Dresden nicht mehr groß die Rede. Bei der „Green Primary“ hatten von vielen Millionen potenziellen Teilnehmern in Europa nicht einmal 23.000 ihre Stimme abgegeben. Und dann gewann bei der Primary eben nicht die Europa-Fraktionschefin Rebecca Harms. Auf dem europäischen Platz eins landete mit etwa 2.000 Stimmen Vorsprung Ska Keller.

Das zog die Frage nach sich: Welche Relevanz und Legitimität hat ein solches Ergebnis? Kann man es einfach so wegwischen? Die unterlegene Teilnehmerin Harms erwiderte auf diese Frage frostig: „Die Primary hat sich selbst weggewischt.“ Die Delegierten gaben ihr am Wochenende recht.